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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Schicksal ereilte, verunglückt; kurz, Niemand erfuhr mehr etwas von ihm. Der Volksglaube, wahrscheinlich lebhaft von der Polizei unterstützt, machte später aus dem Bauer einen Engel, der zur Rettung des Czaars auf die Erde herniedergeschwebt und nach vollbrachtem Werke, wie der Führer des österreichischen Max von der Martinswand, wieder verschwunden war.

Im nächsten Jahre wurde die Lehmann’sche Bude an derselben Stelle wieder aufgebaut, und die Vorstellungen wurden bei ungeschwächtem Besuch wieder aufgenommen.

Es war damals eine gar wunderliche Zeit in Petersburg – um Vieles verschieden von der jetzigen, die man unbedingt eine bessere nennen darf. Trotz des strengen Regimentes, welches Kaiser Nicolaus führte, Bestechung und Willkür an allen Orten und Enden. Wenn er im Winter eine Reise antrat, so eilte ein Bevollmächtigter voraus, der die sonst fast unwegsamen Straßen im Innern des ungeheuren Reiches mit enormen Kosten so glatt machen ließ, daß der Czaar, in dem Wahne, es sei überall im Lande so, auf ebener Bahn wie auf einem Tisch dahinfuhr, in heller Freude über die vortrefflichen Maßregeln seiner Verwaltungsbehörden.

Ich bekam einst zehn Pfund Chocolade von Stettin als Geschenk zugesandt und sollte dafür eine verhältnißmäßig enorme Summe Zoll bezahlen. Ich weigerte mich, diese zu entrichten, und erklärte, das Paket lieber zurücksenden zu lassen.

„Wie viel ist Ihnen die Chocolade werth?“ frug der Bureauchef mit breitem Ordensband um den Hals durch einen deutschen Freund, der, in Petersburg geboren, mit allen dortigen Verhältnissen vertraut, mich zum Zollamt begleitet hatte.

Fünf Rubel höchstens,“ gab ich zur Antwort.

„Wenig, wir sind unser Sechs,“ erwiderte der kaiserliche Beamte. „Nun geben Sie her! Einer meiner Leute wird Ihnen die Chocolade rückwärts in die Tasche stecken. Drehen Sie sich um!“

Dies geschah, man hing mir den Mantel über, und ich fuhr nach Hause, wo ich allerdings statt zehn nur sechs Pfund in meiner Tasche vorfand. „Zu wenig, wir sind unser Sechs,“ bleibt mir unvergeßlich.

Der stolze und mächtige Kaiser, dessen Blick durchbohrte, wen er im Zorn traf, konnte in Heiterkeit überströmen, wenn er auf den Maskenbällen, die im großen Theater gegeben wurden, intriguirt wurde. Freilich durften nur Damen wagen, den hohen Herrn anzusprechen, gleichgültig welcher Art dieselben waren, wenn sie nur gut und witzig in französischer Sprache zu parliren verstanden. Niemand durfte ihn mit seinem hohen Titel ansprechen, Kaiser Nicolaus war an solchen Tagen nur Maskenballgast, nichts weiter.

Manchmal verstand er Spaß, oft aber nahm er solchen sehr übel.

Es ist bekannt, daß der Kaiser in der Osternacht beim Austritt aus der Kirche mit den Worten: „Christus ist erstanden!“ die Schildwache, welche den Posten vor dem Gotteshause inne hat, umarmt, worauf diese antwortet: „In Wahrheit, Christus ist erstanden.“

Einmal aber erhielt der mächtige Monarch die Entgegnung: „Es ist nicht wahr!“ Als der Czaar entsetzt zurückprallte, setzte der Soldat hinzu: „Majestät, ich bin ein Jude.“ Der Mann wurde abgelöst, und die einzige Folge seiner Kühnheit war ein kaiserlicher Befehl, daß in Zukunft in der heiligen Nacht nie mehr ein Jude auf diesen Posten gestellt werden dürfe.

Viel schlimmer kam ein Adjutant des allmächtigen Fürsten Kleinmichel, Herr v. N., fort, der als erklärter Anbeter der schönen Kunstreiterin Laura Bassin, die auch in Deutschland bei der Gesellschaft Lejars u. Cuzent einst durch ihre Reize mehr als durch ihre Kunstleistungen Aufsehen erregte, ein täglicher Besucher des Circus war. Als einst die schöne Laura, welche täglich das schwierige Manöver producirte, wie oft man nach allen Richtungen vom Pferde fallen könne, ohne sich das Genick zu brechen, dies Kunststück eben auf der Probe wieder mit gewohntem Glück in Scene setzte, sprang Herr v. N. wüthend über die Barrière und drang auf Cuzent mit heftigen Vorwürfen ein, daß er seiner Angebeteten „ein zu schlechtes Pferd gegeben“.

„Wenn Sie nicht augenblicklich die Reitbahn verlassen, so peitsche ich Sie hinaus wie einen Stallknecht,“ erwiderte der heißblütige Franzose.

Wüthend und schimpfend entfernte sich, heftige Drohungen ausstoßend, Herr v. N. An demselben Abende führte ihn sein Unstern in eine Soirée bei Fürst Kleinmichel, wo er die Tactlosigkeit hatte, dem Kaiser den Vorfall zu melden. „Und Sie tragen noch Uniform?“ herrschte ihn durchbohrenden Blickes der Czaar an. Vergebens war alle Verwendung seiner hochgestellten Gönner, der russische Officier mußte den Dienst quittiren und bereiste später, als mein College, mit einer mittelmäßigen italienischen Operngesellschaft die Provinzstädte des hohen Nordens. Zu Cuzent aber sagte der Kaiser nach einigen Tagen bitter scherzend: „Was haben Sie denn mit N. vorgehabt? Ich werde Ihnen einen Ring durch die Nase ziehen lassen und Sie nach Sibirien senden.“

Verhängnißvoll war das Geschick, durch welches diese berühmteste aller Kunstreiterfamilien in Petersburg den Gipfel ihres Glücks erreichte und später Alle ihr Ende fanden. Lejars starb an der Cholera, seine bildschöne Wittwe heirathete den französischen Schauspieler Monzause, der ihr Vermögen schleunigst im Spiel vergeudete, der feingebildete Paul Cuzent erlag der Schwindsucht, seine Schwester Pauline folgte ihm bald an derselben Krankheit, ihre Habe wurde zwei Tage lang öffentlich versteigert; in der Ankündigung der vorhandenen Effecten hieß es: „Viele Diamanten – ein wenig Leibwäsche.“

Alle Mitglieder der russischen Kaiserfamilie liebten auf der Bühne die Komik. Dem Komiker des russischen Theaters, der oft die Ehre hatte, in die Hofloge gerufen zu werden, wurden sehr oft die derbsten Scherze nachgesehen. Als der unvergeßliche Beckmann in Karlsbad einst eine Abendunterhaltung bei einer russischen Großfürstin durch seine unvergleichliche Laune belebte und alle Anwesenden, der jetzige deutsche Kaiser voran, sich vor Lachen ausschütten wollten, nahm ein geistreicher Hofmarschall den genialen Künstler bei Seite und sagte: „Wie machen Sie das, lieber Herr Beckmann, daß sich Alles so amüsirt? Wir haben in Petersburg auch Komiker, sehr gute Komiker, o sehr gut, aber man lacht nicht über sie!“

Beckmann! trefflichster aller Komiker, witzigster, gutmüthigster aller Menschen, welche Erinnerungen weckst du in mir! – Kaum dürfte je ein Künstler mit weniger äußeren Hülfsmitteln[WS 1] so enorme reuelose Heiterkeit erweckt haben, als der geniale Fritz! Wer ihn in heiterer Gesellschaft den „Sonntagsjäger“ mit dem Kehrbesen statt dem Gewehr in der Hand darstellen sah, oder den „Concertgeber“ mit der verstopften Clarinette, oder den sich stets versprechenden „Bürgermeister“ einer kleinen Stadt beim Empfange einer fürstlichen Person, dem lacht jetzt noch das Herz im Leibe, wenn er an diese außertheatralischen Leistungen des großen Fritz denkt. Dabei die Bescheidenheit selbst, der beste College, der prächtigste Camerad! – Es gab nur einen Menschen, den er hassen gelernt und der ihm allen Grund, die vollste Veranlassung zur Idiosynkrasie gegeben hatte. Wir wollen den Mann, der noch lebt und an dem das Schicksal das Herzeleid rächte, welches er dem armen Beckmann zugefügt, aus Schonung „Meyer“ nennen.

„Wo haben Sie denn Ihren Hund, Herr Meyer?“ frug ihn Fritz einst auf der Probe.

„Ich habe ja keinen Hund.“

„Nicht? Nun, was will denn Vorstl? Er frug mich so eben: ‚Hast Du den Hund von Meyer nicht gesehen?‘“

Das war das Schlimmste, was er je einem Menschen zu Leid gesagt. Der kleine Vorstl war Beckmann’s unzertrennlicher Begleiter, auf der Jagd, auf Reisen, bei Gastspielen: kein Beckmann ohne Vorstl. Nun war Fritz ein ängstlicher Mensch, er, der unter so bitteren Schmerzen sterben mußte, hatte eine unbeschreibliche Furcht vor allem Wehe, eine unnennbare Angst vor jeder, auch der kleinsten Gefahr. Früher ein alljährlicher, in jedem Kreise gern gesehener, sehnlich erwarteter Curgast in Karlsbad, zog er stets in Freund Vorstl’s Begleitung dahin. Letzterer, in der Gegend von München daheim, lamentirte stets, daß er, so nahe den Seinigen, doch während einer langen Reihe von Jahren nie so glücklich gewesen wäre, seine nächsten Verwandten aufzusuchen.

In gewohnter Gutmüthigkeit beschloß nun Beckmann allein zu reisen und den Freund auf seine Kosten zu seinen Geschwistern nach München gehen zu lassen. Die Eisenbahn ging zu jener Zeit nur bis Schwarzenberg, wohin der Eilwagen unseren Fritz

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Hüfsmitteln
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 587. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_587.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)