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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

er doch, von dem Gegenstande hingerissen, mit einer gewissen Lebhaftigkeit und zuletzt mit einer Freiheit des Gemüthes gesprochen, deren er sich eine Minute vorher nicht für fähig gehalten haben würde. Und so, zerstreut im Anfange, allmählich eifriger, hatte Cäcilie zugehört; ja, es leuchtete ein Strahl des alten Feuers in ihren dunklen Augen, als sie jetzt fragte:

„Und dies nun auf Dich angewendet?“

„Auf mich angewendet, heißt es, daß es ein Unglück für mich war, durch den unseligen Zwist mit meinem Vater und durch – durch eine und die andere trübe Erinnerung, auf die hier einzugehen es der Mühe nicht verlohnt – ich sage: es war ein Unglück, daß ich aus meiner Heimath gewissermaßen verbannt wurde in dem Augenblick, wo ich ihrer am wenigsten entbehren konnte: der Blumen, die ich als Kind auf den Wiesen gesucht; der Bäume, unter denen der Knabe gespielt, durch deren Kronen er die Sonnenstrahlen hat schlüpfen sehen und den Regen hat rauschen hören; des Himmels, der jetzt so wonnig lachen kann, und ein ander Mal so unsäglich trüb, so grenzenlos melancholisch ist; des Meeres, über dessen glatte, im Abendschein leuchtende Bahn, auf dessen gewitterschwarzen Wogen des Jünglings Phantasie so oft hinausgeschwebt, hinausgesegelt war in die Gefilde der Seligen und in das düstre Nebelreich seiner Träume von Schlacht und Kampf und frühem Heldentod; das Alles – ich meine die Dinge und die Träume – hätte ich malen können, zur Lust und Freude Anderer, denen ich durch meine Bilder die sehnende Erinnerung ihrer eigenen Kindheit, Knaben- und Jünglingszeit in der Seele erweckt hätte; was ich jetzt gemalt – ich habe es nicht aus meiner Seele heraus, nicht mit ganzer Seele gemalt, malen können – wie kann es da etwas Anderes sein als im besten Falle eine klingende Schelle!“

„Warum zieht Ihr Künstler denn so eifrig in ferne Länder?“ fragte Cäcilie.

Sie schien wieder ganz das lernbegierige Mädchen, dessen dunkle glänzende Augen immerdar das rastlose Feuer ihres Geistes wiederstrahlten, von dessen Lippen jetzt silbernes Lachen klang und jetzt ein geistreich ernstes Wort.

„Ich glaube, daß dieser Eifer oft genug ein blinder, unverständiger ist,“ erwiderte Gotthold, „und jedenfalls würde ich dem jungen Künstler immer rathen, seinen Römerzug nicht früher zu machen, als bis er fest in seinen Schuhen steht, sonst ist es dort unten ein Spiel der Wolken und der Winde. Goethe hatte längst seine Blätter von deutscher Art und Kunst geschrieben und war längst ein Meister deutscher Art und Kunst, als er nach Italien ging; so mochte er denn unter den Pinien des Gartens der Villa Borghese ruhig weiter an seinem Faust dichten und zurückkehren, beladen mit den überreichen Schätzen seiner Beobachtungen des Landes und der Menschen und dessen, was sie seit Jahrtausenden unter diesem schönen Himmel getrieben, und im tiefsten Grunde seiner Künstlerseele doch derselbe, der er war. Sieh, Cäcilie, es ist in der Republik der Künste wie im Staate. Welcher Bürger könnte die großen Verhältnisse des Staates übersehen, der nicht zuvor den Blick an den engeren Beziehungen des Gemeindelebens geübt hätte; wer könnte in der Gemeinde etwas Tüchtiges leisten, der nicht gelernt hätte, sein Haus zu verwalten; wer könnte sein Haus verwalten, seine Familie regieren und lenken, der sich selbst nicht zu regieren und zu lenken verstände?“

Während Gotthold sprach, war Gretchen herangekommen; Cäcilie hatte sie auf den Schooß genommen, und das Kind hatte da still gesessen, als wüßte es, daß es jetzt nicht hineinreden dürfe. Nun, da Gotthold schwieg, sagte es: „Mama, weißt Du, ich will Onkel Gotthold zu meinem Papa haben.“

Eine Purpurgluth flammte über Cäciliens Gesicht; sie machte eine heftige Bewegung, Gretchen von ihrem Schooße zu lassen; aber das Kind wollte seine Sache nicht so leicht aufgeben. Sie schlang ihr gesundes rechtes Aermchen um der Mutter Hals und sagte schmeichelnd: „Nicht wahr, Mama; er hat so blaue Augen und ist immer gut zu Dir, und Papa ist oft so garstig; nicht wahr, Mama?“

Cäcilie erhob sich schnell mit dem Kinde und that ein paar Schritte, als wolle sie von dem Platze entfliehen. Aber ihre Kniee zitterten, sie konnte nicht weiter und mußte Gretchen auf den Boden gleiten lassen, die, durch die Heftigkeit der Mutter erschreckt, weinend davon lief und im nächsten Moment ihren Schmerz über ein paar bunten Schmetterlingen vergaß, die vor ihr her in die Beete flatterten. Sie selbst war, von Gotthold abgewandt, stehen geblieben.

„Cäcilie!“ sagte Gotthold.

Er war an sie herangetreten, er wollte ihre herabhängende Hand ergreifen. Sie wandte sich und das Antlitz der Medusa starrte ihn an.

„Cäcilie!“ rief Gotthold noch einmal, beide Hände nach ihr ausstreckend.

Sie wich nicht zurück, sie rührte sich nicht; nur in dem starren Gesicht, um die halbgeöffneten Lippen zuckte es und dann kamen die Worte langsam, wie letzte Blutstropfen aus einer tödtlichen Wunde.

„Ich brauche Dein Mitleid nicht, hörst Du; ich habe Dir kein Recht gegeben, mich zu bemitleiden, Dir und Niemand; was quälst Du mich?“

„Ich werde Dich nicht länger quälen, Cäcilie; ich habe Dir gesagt, daß ich gehe.“

„Warum gehst Du nicht? warum sprichst Du mit mir von solchen Dingen? mit mir! Du willst mich wahnsinnig machen; und – ich will nicht wahnsinnig werden.“

„Dies ist Wahnsinn, Cäcilie,“ rief Gotthold leidenschaftlich. „Wenn Du ihn nicht liebst – und Du liebst ihn nicht, kannst ihn nicht lieben – kein göttliches Gesetz und schließlich auch kein menschliches zwingt Dich, zu bleiben, zu verbluten, zu vergehen in namenlosem Elend. Und so wenig wie Du ihn, liebt er Dich.“

„Hat er Dir das gesagt?“

„Bedarf es dessen?“

„Bei Deiner Ehre, Gotthold, hat er Dir das gesagt?“

„Nein, aber –“

„Und wenn er mich nun doch liebte, und – und wenn ich ihn liebte? Wie kannst Du wagen, so zu mir zu sprechen, wie Du eben zu mir gesprochen! Wie kannst Du wagen, mich jetzt durch Dein Schweigen Lügen zu strafen, mich vor mir selbst so zu demüthigen! Ist das Deine gerühmte Freundschaft?“

Gotthold ließ das Haupt sinken und wandte sich. Gretchen kam ihm entgegen.

„Wo willst Du hin, Onkel Gotthold?“

Er hob das Kind in die Höhe, küßte es, ließ es wieder auf den Boden gleiten und ging.

„Warum weint Onkel Gotthold, Mama?“ fragte Gretchen, die Mutter an dem Kleid ergreifend. „Papa kann nicht weinen, nicht wahr, Mama?“

Cäcilie antwortete nicht; die starren thränenlosen Augen hingen an der Stelle, wo Gotthold zwischen den Büschen verschwunden war.

„Für immer!“ murmelte sie, „für immer!“




12.


Als Gotthold zu dem hölzernen Gitterpförtchen kam, das, von einer halbverdorrten Linde überschattet, durch die struppige Hecke auf dieser Seite aus dem Garten führte, stand er still und warf einen scheuen Blick über die sonnigen Felder nach dem Walde. Es wäre ihm jetzt unerträglich gewesen, einem Menschen zu begegnen, vielleicht stehen zu bleiben und einen Gruß, eine Frage beantworten zu müssen. Aber er sah Niemand; sie waren Alle drüben auf der großen Roggenbreite, von der man heute schon den ganzen Tag eingefahren hatte; der Weg zum nahen Walde war frei.

Die Sonne brannte in unheimlich sengender Gluth und die erhitzte Luft zitterte über dem Weizen, der sich bereits zu bräunen begann und dessen kräftige Halme nicht der leiseste Hauch bewegte; überlaut zirpten und schwirrten auf beiden Seiten des schmalen Pfades, der sich durch das Feld wand, unzählige Cicaden; ein großer Flug Feldtauben kreiste in nicht allzugroßer Höhe, und wenn sie sich in blitzschneller Wendung herumwarfen, erglänzte auf dem fleckenlos blauen Himmel die bewegliche Wolke in dem Strahl der landwärts sinkenden Sonne wie ein stählerner Schild.

Gotthold sah das Alles, weil er gewohnt war mit der Natur zu leben, und so fühlte er auch die elektrische Spannung in der Atmosphäre, aber nur als in Uebereinstimmung mit dem Krampf, der sein Herz zusammenschnürte. Die brennende Thräne,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_615.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)