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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

ganzen Kiel vom Bug bis zum Stern sich aus den Wellen heben sieht und über den hochragenden Leebord nur eben den Kopf des Steuermannes, dessen schneeweißes Haar im Winde flattert, und den Oberleib eines jungen Mannes am Bugspriet, der in den erhobenen Händen eine zusammengerollte Leine hält. Und jetzt schnellt die Leine wie eine Schlange herüber, quer über sein Boot. Er hat sie ergriffen und um den Haken geschlungen. Ein mächtiger Ruck; herüber und hinüber schwankt sein Boot, das jetzt fast bis an den Rand mit Wasser gefüllt ist und unter seinen Füßen sinkt; aber schon liegen seine Hände an dem Bord des größeren Fahrzeuges; zwei kräftige Arme fassen ihn um die Schultern und im nächsten Moment taumelt er zu den Füßen des alten Boslaf, der ihm die linke Hand entgegenstreckt, während er mit der rechten das Steuer mächtig herumdrückt, das eigene Fahrzeug vor dem Kentern zu bewahren.


(Fortsetzung folgt.)




Meine erste Luftschifffahrt.


Von Gaston Tissandier.[1]


Eine Reise hatte mich am 12. August 1868 nach Calais geführt. Durch die Straßen schlendernd, sah ich hier an Thoren und Mauern eine Luftfahrt für den 16. August – als Nachfeier des Napoleonstages – angekündigt. Der Unternehmer nannte sich J. Duruof, ein mir bis dahin völlig unbekannter Name. Zugleich waren für denselben Tag Ruderwettfahrten angezeigt, die zwischen den beiden Hafendämmen stattfinden sollten. Allein je weniger diese mich reizen, um so mehr beschäftigt mich die bevorstehende Ballonfahrt.

Auf dem umgekehrten Ocean.

Am andern Morgen früh begebe ich mich in das Gasthaus, in welchem Duruof wohnt, und bin überrascht, einen blutjungen Mann vor mir zu sehen. Mein Eifer macht ihn gesprächig, beredt, und ehe noch eine Viertelstunde vergangen, habe ich einen Freund und – einen Platz in seiner Gondel gewonnen. Hocherfreut verlasse ich Duruof. Aber wie groß ist meine Bestürzung, als einige Bekannte, denen ich mein Vorhaben mitgetheilt, mir ihre unverhohlene Mißbilligung aussprechen. Es sei eine klägliche Posse, der ich zum Opfer fallen werde. Denn Duruof habe schon einmal eine Aufsteigung in Calais versucht, aber im Augenblicke der Abfahrt seinen absichtlich überfüllten Ballon zerplatzen lassen. Es handle sich höchst wahrscheinlich auch diesmal um eine Täuschung der Massen.

Anderer Art, aber nicht minder dringlich war die Einsprache, welche von Seiten mehrerer Verwandten erhoben wurde, die ich in Calais hatte. Sie erinnerten mich an die Gefahren des Wagnisses. Hier zwischen Canal und Nordsee, in der Straße der Stürme sei der Luftschiffer mehr als anderswo bedroht. An diesen verhängnißvollen Küsten sei Pilâtre gescheitert, habe Deschamps den Tod gefunden. So wohlgemeint und rührend diese Warnungen aber auch waren, konnten sie doch meinen Vorsatz nicht erschüttern. Sonnabend den fünfzehnten bringe ich damit zu, daß ich Duruof die Löcher und Ritzen des Ballons aufsuchen und verstopfen helfe. Dann eile ich in das Bureau der „Humanen Gesellschaft“, um mir einige Rettungsgürtel und dergleichen auszubitten;

  1. Aus dem in den nächsten Wochen erscheinenden Werke: „Luftreisen von J. Glaisher, T. Flammarion, W. v. Fonvielle und G. Tissandier. Mit einem Anhang über die Ballonfahrten während der Belagerung von Paris. Frei aus dem Französischen. Eingeführt durch Hermann Masius. Mit zahlreichen Illustrationen. Leipzig, Friedrich Brandstetter. 1872“ theilen wir mit Genehmigung des Herrn Verlegers die ebenso anziehende als belehrende Schilderung G. Tissandier’s von seiner ersten Auffahrt mit, die er mit Duruof unternahm. Später zeichnete er sich noch durch mehrere, theils selbstständige, theils in Verbindung mit Wilhelm von Fonvielle ausgeführte Luftreisen aus, bis er in das belagerte Paris mit eingeschlossen wurde. Hier aber wagte er die vierte von den fünfundsechszig Ballonfahrten aus Paris, nachdem abermals Duruof, als der Erste, ihm das Beispiel gegeben.
    Die Redaction.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_617.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)