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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

No. 41.   1872.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Was die Schwalbe sang.


Von Friedrich Spielhagen.


(Fortsetzung.)


17.


In Frau Wollnow’s kleinem behaglichen Balconzimmer der oberen Etage hatte man soeben den Kaffee eingenommen; die Herren waren gegangen, um unten im Comptoir eine Cigarre zu rauchen. Die Damen saßen noch am Tisch, von welchem das hübsche junge Dienstmädchen die Sachen abräumte; die drei Kinder, die sich in die veränderte Hausordnung – man nahm den Kaffee sonst unten im Wohnzimmer ein – nicht finden konnten, tollten übermüthig umher, zu Frau Wollnow’s herzlichster Lust, während Alma Sellien eine mißvergnügte Falte mit der zarten wohlgepflegten Hand von der weißen Stirn glättete.

„Könntest Du die Kinder jetzt nicht fortschicken?“

„Die Kinder!“ sagte Frau Wollnow mit einem erstaunten Blick ihrer runden braunen Augen auf ihre braunäugigen Lieblinge.

„Ich bin des Morgens stets ein wenig nervös; und heute, wo ich noch eine Landpartie vorhabe, muß ich doppelt vorsichtig sein.“

„Ach, verzeihe, liebe Alma! ich dachte nicht daran, daß Du an den Spectakel nicht gewöhnt bist. Es ist auch nicht immer bei mir so schlimm; aber seitdem mich vorgestern meine Stine verlassen hat – lieber Gott, ich kann es ihr nicht verdenken; sie will heirathen, die gute alte Person, und noch dazu einen jungen Menschen, der beinahe ihr Sohn sein könnte, da hat sie denn allerdings keine Zeit zu verlieren. Sie ist zu ihren Eltern zurückgegangen; die Hochzeit soll schon in zwei Wochen sein. Es ist ihr schwer genug geworden, sich von den Kindern zu trennen –“

„Du wolltest die Kinder ja wegschicken, Liebe!“

Die Kinder waren fortgeschickt; Alma Sellien lehnte sich erschöpft in die Sophaecke zurück und sagte, indem sie die sanften blauen Augen wie im Halbschlummer schloß: „Ich bin überzeugt, es ist wieder eine Enttäuschung.“

„Was, liebe Alma?“ fragte Frau Wollnow, deren Gedanken noch bei ihren Kindern waren.

„Mein Mann schwärmt so entsetzlich für ihn; er enthusiasmirt sich immer nur für Männer, die ich hinterher abscheulich finde.“

„Diesmal dürftest Du Dich irren,“ rief Frau Wollnow, die über einem so interessanten Thema selbst das Schreien ihres Jüngsten auf der Treppe überhörte; „Dein Mann hat eher zu wenig als zu viel gesagt. Er ist nicht nur ein schöner Mann – worauf ich für mein Theil herzlich wenig Gewicht lege – groß, von einer überaus feinen, anmuthigen Haltung, die mit dem sanften und doch entschiedenen Ausdruck seiner Züge, mit dem milden und doch festen Blick der großen, tiefblauen Augen, ja mit dem weichen und doch sonoren Klang seiner Stimme auf das Herrlichste harmonirt.“

„Du wirst ja zur Dichterin,“ sagte Alma.

Ottilie Wollnow erröthete bis in ihr krauses blauschwarzes Stirnhaar hinauf.

„Ich leugne nicht, daß ich ihn sehr – sehr –“

„Liebe,“ ergänzte Alma.

„Nun ja, wenn Du willst; das heißt, wie ich alles Schöne und Gute liebe.“

„Eine vortreffliche Theorie, zu der ich mich ganz und gar bekenne, nur daß wir leider in der Praxis jedesmal auf den Widerspruch unserer Männer gefaßt sein müssen. Der Deinige schien wenigstens von Deinem Protégé nicht ebenso entzückt zu sein.“

„Mein guter Emil!“ sagte Frau Wollnow, „wir stimmen in so manchen Dingen nicht, und, lieber Himmel, es ist ja auch kein Wunder; er hat es sich sein Lebenlang so blutsauer werden lassen müssen, das hat ihn ein wenig ernst und pedantisch gemacht; aber er ist ein so grundguter Mensch, und in diesem Falle irrst Du Dich nun vollkommen: er interessirt sich im Grunde für Gotthold noch viel mehr, oder, wenn das zuviel gesagt ist, mindestens ebenso viel wie ich.“

„Es schien nicht so.“

„Aber schien auch nur. Er fürchtet, sich etwas zu vergeben, wenn er redet, wie es ihm um’s Herz ist. Ich habe gefunden, alle Menschen, die eine traurige Jugend durchgemacht haben, sind so. Auch das Herz will, so zu sagen, Tanzstunde gehabt haben, und hat es keine gehabt, hat es immer nur unter dem Druck enger, trübseliger Verhältnisse schlagen können, wie bei meinem armen Emil, das verwindet man das ganze Leben nicht. Aber, was ich bemerken wollte: diesmal hat es damit eine ganz besondere Bewandtniß. Mein guter Emil ist freilich noch niemals, selbst gegen mich nicht, mit der Sprache herausgegangen, der gute, liebe Mensch, als ob ich ihm übel nehmen würde, daß er vor dreißig Jahren, oder sind es schon fünfunddreißig, einmal gründlich verliebt gewesen ist, in die Mutter Gotthold’s nämlich, als er und sie in Stettin in demselben Hause lebten – es ist eine lange, ganz romantische Geschichte.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 669. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_669.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)