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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

während Hinrich Scheel mit der Laterne in der Hand dabei stand; das heißt: es ist in der Zwischenzeit geraubt worden.

Von wem?

Ohne Zweifel von eben jenem Hinrich Scheel, aber sehr – sehr wahrscheinlich nicht von Hinrich Scheel allein.

Kann Brandow zugegen gewesen sein?

Er hat es sich keine kleine Mühe kosten lassen, sein Alibi zu beweisen, noch bevor der Beweis von ihm gefordert wurde, und hat die Sache offenbar schlau genug angefangen. Er ist den Weg über Neuenhof, Lankenitz und Faschwitz geritten; das steht fest; die Leute in den Dörfern haben ihn durchjagen hören; er hat sich sogar die Zeit genommen, mit einem und dem andern der ihm Begegnenden zu sprechen. Ist er den ganzen Weg geritten, kann er nicht bei der That zugegen gewesen sein; – auch der beste Reiter auf dem schnellsten Pferde könnte das nicht leisten; – aber wenn er nun nicht den ganzen Weg geritten, wenn er erst vor Neuenhof in denselben eingelenkt, wenn der Gespensterreiter, den Sie im Fieber, über das Moor jagend, gesehen haben wollen, ein wirklicher Reiter in Fleisch und Bein, und wenn dieser Reiter Brandow gewesen wäre?

Sie sagen: Das ist unmöglich. Was ist einem Menschen unmöglich, hinter dem die Furien her sind, wenn er ein Pferd wie den vielbesprochenen Brownlock unter sich hat?

Brandow hat in jener Nacht den Brownlock geritten; der Hausknecht im ‚Fürstenhofe‘ will es beschwören, nachdem er vorgestern den Renner auf seiner Reise nach Sundin bei Tage gesehen. Und wenn ein Mann wie Brandow ein Pferd, das an und für sich ein kleines Vermögen repräsentirt, und auf das er überdies Tausende gewettet, in einer solchen Nacht auf solchen Wegen in solcher Pace reitet, so muß er – es sehr eilig haben.

Er muß es sehr eilig gehabt haben, sonst, lieber Freund – wären Sie nicht mit dem Leben davongekommen. Verschont hat man Sie sicher nicht; wen man erst sechszig Fuß hoch kopfüber hinabstürzen läßt, den macht man auch vollends stumm, wenn man – es nicht sehr eilig hat.

Doch, wie gesagt, das wird auch wohl einem weiseren Richter als dem Justizrath von Zadenig ein Problem bleiben. Der Eine, der dabei gewesen, wird es niemals verrathen; und der Andere – kann es möglicher Weise nicht mehr verrathen.

Ich begegnete Brandow, als ich von B. zurückkam; er kann sehr leicht von meinem Kutscher erfahren haben, daß ich mit dem Justizrathe eine Stunde lang conferirt. Er reitet im Galopp nach Hause; eine Stunde später kommt der Referendar mit dem Gensd’armen. Sie finden Hinrich Scheel nicht mehr, den man während des ganzen Vormittags gesehen, der noch dem Herrn beim Nachhausekommen das Pferd abgenommen hat. Der Herr ist sehr, sehr eifrig besorgt, daß der so plötzlich Vermißte ja gefunden werde; er leitet selbst die Nachforschungen; er –

Ich will diese grauenhafte Vermuthung nicht weiter spinnen; es ist die einzige, die in meiner Zusammenstellung vorkommt; das Andere sind Thatsachen – Thatsachen, die zum Himmel schreien, die nicht ungestraft bleiben dürfen, nicht ungestraft bleiben sollen. Ich weiß, liebster Freund, Sie denken darüber wie ich, wenn auch jede Fiber Ihres Herzens zucken muß, daß Sie, gerade Sie –

Ich komme übermorgen mit meiner Frau nach Sundin. Wir wollen dann weiter sehen, nicht was zu thun ist – darüber kann ja kein Zweifel obwalten; aber das Wie ist allerdings zu überlegen.“

Gotthold steckte den Brief wieder ein und blickte in die trostlose Regenlandschaft hinaus, so starr, daß er kaum den Wagen hörte, der, von Prora herkommend, auf der andern Seite an ihm vorüberjagte. Es war noch eine halbe Stunde bis Prora; aber dem Ungeduldigen dünkte es eine Ewigkeit. Endlich hielt der Wagen vor Wollnow’s Hause.




26.


„Ich lasse Sie so ungern fort,“ sagte Ottilie; „mein Mann muß noch vor Abend zurückkommen. Er wird sehr ungehalten sein, daß ich Sie fortgelassen habe. Und dann, gestehen Sie es doch, lieber Freund: Sie gehen ohne einen bestimmten Plan, ohne einen festen Entschluß, und wollen so einem Manne, wie Brandow, gegenübertreten; das heißt doch, sein Spiel verlieren, ehe man es begonnen hat.“

Ottilie hatte Gotthold’s beide Hände erfaßt, als wollte sie ihn vor der Thür wieder in’s Zimmer ziehen. Gotthold schüttelte den Kopf.

„Sie haben ja Recht,“ sagte er; „aber es giebt Fälle, wo der Andere, der nicht Recht hat, wenigstens sein Recht nicht beweisen kann, dennoch nach seiner Ansicht handeln muß. Ich bin in dem Falle. Ich kann Brandow nicht in das Zuchthaus oder auf das Schaffot liefern; ich kann es nicht –“

„Auch wenn er sonst der Gatte Cäciliens bliebe? Das können Sie ebenso wenig wollen.“

„Gewiß nicht, und deshalb muß eben ein Drittes gefunden werden.“

„Das sich niemals wird finden lassen. Lieber, bester Gotthold, lassen Sie mich Ihnen sagen, was mein Mann, wenn er hier wäre, Ihnen gesagt haben würde: Niemals! Er wird, wenn Sie so, allein, ohne Hülfe, ohne die Häscher und das Gericht hinter sich, kommen, niemals weichen, Sie müßten ihm denn beweisen können, daß Sie ihn ganz und vollständig in der Hand haben, und so steht die Sache nicht. Mein Mann sagte noch gestern Abend: ‚Könnte man ihm den Scheel gegenüberstellen! ohne den Scheel ist doch eigentlich nichts zu machen; aber wo ist der Scheel? Vielleicht auf dem Boden eines der Dollaner Moore.‘ Ach! lieber Freund, bleiben Sie fort von dieser Mördergrube!“

„Und ich sollte sie da lassen?“ rief Gotthold. „Wehe mir, daß ich es bis jetzt gethan, daß ich nicht Alles daran gesetzt habe, sie mit mir fortzunehmen, sie und ihr Kind! denn nur das Kind hat sie ja gehalten, und er würde auch das Kind verkauft haben, hätte ich Kopf und Herz genug gehabt, ihm den rechten Preis zu bieten. Jetzt kann ich ihm nichts mehr bieten, als einen Kampf auf Tod und Leben, aber ich bin gewiß und er weiß recht wohl, daß ich diesmal nicht unterliegen werde. Verzeihen Sie, liebe Freundin, daß ich mich vor Ihnen so in Worten übernehme, wo Handeln sich wahrlich besser ziemte, und – leben Sie wohl!“

Ottilie brach in Thränen aus. „Und Sie,“ rief sie, „lieber, bester Freund! Ach, ja, Sie müssen fort, Sie müssen Alles daran setzen, wenn Sie Cäcilie lieben, und daß Sie sie lieben – ich wußte es ja längst vor heute; und mein guter Emil wußte es, und – und – Emil würde an Ihrer Stelle nicht anders handeln, glauben Sie mir, er mag vorher gesagt haben und hinterher sagen, was er will! Er weiß, was leidenschaftliche Liebe ist; ja, er würde nichts dagegen haben, wenn er wieder achtundzwanzig Jahre und an Ihrer Stelle wäre. Aber ich kann doch nichts dafür, daß ich nicht so schön und so geistreich bin, wie es Ihre liebe selige Mutter war; und daß ich überhaupt vor dreißig Jahren noch gar nicht existirte, und es giebt schließlich auch noch unglücklichere Eheleute, als ihn und mich, und, und – mögen Sie und Ihre Cäcilie nur auch einmal so glücklich werden!“

Sie hatte Gotthold umarmt und herzlich geküßt und stand jetzt am offenen Fenster, ließ sich den Regen in das verweinte Gesicht stäuben und winkte mit dem Taschentuch, während sein Wagen über das holprige Pflaster davonschwankte.

Es war trotz aller Aufenthalte noch ziemlich eine Stunde bis Sonnenuntergang, als Gotthold Prora verließ, und die Pferde griffen noch immer wacker auf; so mußte er vor Einbruch der völligen Dunkelheit in Dollan sein. Er wiederholte sich das mehrmals im Laufe der nächsten Stunde und besann sich dann, weshalb er eigentlich diese Rechnung immer wieder anstellte und was darauf ankomme, ob er vor oder nach Einbruch der Dunkelheit Dollan erreiche. Er konnte sich darauf keine Antwort geben, und während er nach der Antwort suchte, sagte er schon wieder: „Gott sei Dank, ich werde noch vor der Dunkelheit da sein!“ Fingen seine Gedanken sich zu verwirren an? das wäre schlimm; sein Kopf würde wohl heute noch viel auszuhalten haben; und dann schweiften seine besorgten Blicke wieder zu den trüben Wolken empor und über die nassen Stoppelfelder und die schwarzen Aecker und er sagte: „es wird doch schneller dunkel, als ich dachte;“ und, als erheischte die Hartnäckigkeit der Vorstellung eine entsprechende Vorstellung und wäre es auch eine unsinnige, fügte er hinzu: „ich werde sie nicht mehr finden.“

Und nun konnte er die neue Vorstellung nicht wieder loswerden: er werde sie nicht mehr finden! als würde sie sich verstecken

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 767. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_767.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)