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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Stiefeln angehabt, denn sie seien in den Schrank geschlossen gewesen und sie habe ja die Schlüssel in der Tasche gehabt.

Die Kleine fing wieder an zu weinen; Gotthold sagte ihr ein paar Worte, die tröstlich sein sollten, und mußte sich dann abwenden, da der eigne Schmerz ihn zu überwältigen drohte. Das weinende Mädchen hatte ihn so an die sonnigen Tage erinnert, wenn er Cäcilien im Garten aufsuchte und Gretchen zwischen den Blumenbeeten spielte.

Als er wieder vor das Haus trat, waren die Leute mit ihrem Imbiß fertig und bereit abzumarschiren. Schmied Prebrow sollte links, der Statthalter rechts vom Dahlitzer Wege den Wald absuchen; Vetter Boslaf selbst wollte auf dem Wege bleiben. Man brach schon auf, als Gotthold’s Wagen in den Hof schwankte; die Feder war nun vollends gebrochen und von dem einen Rad ging der Reifen los. Vetter Boslaf fragte den Statthalter, ob der alte Wagen von Herrn Wenhof noch da und im Stande sei. Der Wagen war da, konnte in Stand gebracht werden. Dann sollte Clas Prebrow ihn zurecht machen, ein Paar frische Pferde vorlegen und nachkommen. Gotthold blickte den Alten fragend an.

„Ich suche, bis ich sie finde,“ sagte der Alte, den Riemen der Büchse höher auf die Schulter rückend, „und ich werde sie finden – lebendig oder todt; in beiden Fällen werden wir den Wagen brauchen.“

Man kam an den Wald; die Männer hatten sich schon nach rechts und links ausgebreitet und drangen nun hinein.

„Ich bleibe auf dem Wege,“ sagte Vetter Boslaf zu Gotthold, als sie jetzt nebeneinander dahinschritten; „ich kann mich auf meine alten Augen verlassen und ich glaube jetzt fast, sie hat diesen Weg genommen. Sie kam hier am schnellsten in den Wald und gleich hinter dem Walde, auf der Brache rechts ist die große Mergelgrube. Als sie ein Kind war, ertränkte sich eine arme Dirn darin, die ihr Neugeborenes umgebracht hatte.“

Der Alte veränderte den langen gleichmäßigen Schritt nicht, während er so sprach und seine scharfen Augen den in tiefe Furchen zerwühlten Weg absuchten oder über die Büsche und Baumstämme an den Seiten schweiften, zwischen denen – hier in der Tiefe des Waldes – die Nacht bereits finster hervorblickte. Die Leute im Walde riefen sich einander zu, um Fühlung zu behalten; manchmal wurde einer von den Hunden, die man mitgenommen, laut, dann war wieder für einen Moment Alles still; nur der Wind sauste in den mächtigen Kronen und schüttelte die Regentropfen prasselnd durch die Blätter. Dann stand der Alte wohl und horchte und ging weiter, wenn er sich überzeugt, daß die Männer noch Linie hielten und nichts Besonderes sich ereignet hatte.

So kamen sie an den Ausgang des Waldes, dessen dunkler Saum sich nach beiden Seiten endlos in die Dämmerung hinausstreckte. Von den Leuten, die sich nur langsamer durch das Unterholz hatten arbeiten können, war noch keiner zu sehen; Vetter Boslaf deutete nach rechts, wo ein Stück abseits vom Wege auf der Brache ein runder Fleck sich von dem dunkleren Terrain auszeichnete; es war die Mergelgrube, welche der endlose Regen der letzten Tage fast bis an den Rand gefüllt hatte.

Sie gingen über den Wegrain auf die Brache; der Alte schritt wieder voran, aber langsamer als zuvor und er hatte das Haupt tiefer gesenkt, als wollte er jedes Hälmchen des kurzen nassen Grases zählen. Plötzlich blieb er stehen: „Hier!“

Er deutete auf den nassen Boden, in welchem sich, wie auch Gotthold jetzt bemerkte, Fußspuren eingedrückt hatten, eine größere, neben der eine kleinere herlief. Die Spuren kamen vom Wege, den sie eben verlassen, aber waren schon näher dem Walde abgegangen, und liefen auf die Mergelgrube zu, und sie waren unter einem halben rechten Winkel darauf gestoßen. Der alte Jäger und der junge Mann blickten einander an; keiner sprach ein Wort; sie wußten, daß die Entscheidung jetzt gekommen war.

Langsam, vorsichtig folgten sie der Spur, die gleichmäßig vor ihnen fortlief immer auf die Mergelgrube zu, auf deren Wasserfläche sie bereits deutlich die kleinen Furchen sahen, die der rauhe Wind plätschernd gegen den steilen Rand trieb. Nur noch fünfzig Schritte vielleicht, dann war es entschieden.

Gotthold’s starrer Blick war auf das schauderhafte Wasser geheftet, das unheimlich im letzten schwachen Lichte des Abends blinkte; er sah sie am Rande stehen, das Kind an der Hand, hineinstarren –

Die eine Hand des Alten lag auf seiner Schulter, mit der andern deutete er hinab. „Sie hat die Kleine hier auf den Arm genommen.“

Es war nur eine Spur, die größere, und die Spur war tiefer eingedrückt – fünf, zehn, fünfzehn Schritte –

„Steh!“

Der Alte hatte es gerufen und sich, in demselben Moment mit der Hand rückwärts winkend, auf beide Kniee niedergelassen. Die Spur war zertreten, als hätte sie ein paar unentschlossene Schritte hinüber, herüber gemacht, und dann lief die Spur deutlich weiter, aber parallel mit dem Rande der Mergelgrube, und dann wandte sie sich entschieden in der Richtung nach dem Wege zurück und blieb in der Richtung bis an den Rain, von dessen scharfem Rande, als sie mit ihrer Last hinüber auf den Weg schritt, ein Stückchen Rasen abgestoßen war.

Die Beiden standen wieder auf dem Wege; Gotthold war, als ob der Boden unter ihm schwankte; er warf sich an die Brust des alten Mannes, der ihn fest umschlungen hielt.

„Wir dürfen jetzt hoffen, lieber Sohn; aber wir sind noch nicht am Ende.“

„Ich will Alles tragen und wagen, so lange ich noch hoffen darf,“ rief Gotthold, sich aus den Armen des Greises aufrichtend.

Aus dem finstern Walde hervor kamen jetzt einzeln und paarweise dunkle Männergestalten auf die Stelle zu, wo die Beiden standen. Sie hatten nichts gefunden; der Statthalter Möller fragte, ob sie nun noch die Mergelgrube durchsuchen wollten; mehr würden sie heute wohl nicht mehr können; es sei zu dunkel geworden und die Leute todtmüde.

„Aber wenn Herr Wenhof will, wollen wir auch noch,“ sagte Statthalter Möller; „nicht wahr, Leute?“

„Ja, dann wollen wir auch noch,“ erwiderten sie im Chor.

„Ich danke Euch,“ sagte Vetter Boslaf; „Ihr könnt nun nicht mehr helfen; ich will mit dem Herrn hier allein weiter, sobald Clas Prebrow mit dem Wagen kommt, und ich habe jetzt Hoffnung, daß ich mein Urenkelkind am Leben wiederfinde.“

Die Stimme des Alten zitterte, als er die letzten Worte sprach, die Leute blickten ihn verwundert an.

„Ja, mein Urenkelkind,“ hub der Alte wieder an, und seine Stimme war jetzt stark und hatte einen eigenthümlich tiefen, feierlichen Klang; „denn das ist sie – mein und Ulrikens, der Gattin von Adolf Wenhof, Urenkelkind. Ihr habt heute so treu zu mir gestanden, und da kann ich nicht anders, als Euch die Wahrheit sagen. Es lebt Niemand, dem dadurch ein Leids geschieht, aber Euch kann es gut thun, zu wissen, daß man immer die Wahrheit sagen muß, daß ein alter neunzigjähriger Mann sie noch sagen muß, aus keinem andern Grunde, als weil es die Wahrheit ist. Und nun geht nach Hause, Kinder; und laßt Euch nicht verleiten, Rache zu nehmen an Dem, der mein Kind von Haus und Hof getrieben; und laßt auch nicht Euren Zorn an Haus und Hof aus. Es haben bessere Männer vor ihm da gewohnt, und werden nach ihm bessere Männer wohnen; und nun noch einmal: ich danke Euch, Kinder!“

Die Leute hatten schweigend zugehört; Einer und der Andere hatte die Mütze abgenommen; sie wußten nicht recht warum; und als der alte Mann mit Gotthold in die Kutsche stieg, die unterdessen still herangekommen, standen sie Alle mit entblößtem Kopfe herum, und als die Kutsche sich in Bewegung gesetzt und sie selbst den Heimweg antraten, dauerte es lange, bis Einer ein lautes Wort zu sprechen wußte.

Die Kutsche aber fuhr in den dunkeln Abend hinein in der Richtung nach dem Stranddorfe Ralow. Es war ein lieblicher Weg an einem Sommerabende, und Cäcilie war gern mit dem Kinde hier promenirt. Gotthold hatte gemeint, sie wollten diesen Weg nehmen; der Alte war es zufrieden gewesen. „Jetzt kommst Du an die Reihe,“ sagte er. „Wir suchten eine Todte, dazu taugt ein alter Mann; jetzt suchen wir Eine, die lebt, dazu mag ein junges Blut geeigneter sein.“




28.


Zwei Tage später stand des Morgens nach dem zweiten Frühstück vor der Thür seines Hauses Jochen Prebrow und blickte durch ein langes Teleskop, das er mit der linken Hand

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_782.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)