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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

an die Flaggenstange gedrückt hielt, die vor dem Hause hoch auf dem Sande aufragte, in das Meer hinaus. Man konnte den guten Jochen oft in genau derselben Stellung und Beschäftigung finden. Nicht als ob er auf dem Meere irgend etwas Besonderes gesucht oder zu entdecken gehofft hätte; aber in müßigen Momenten war das Teleskop, welches für gewöhnlich dicht an der Hausthür, im Schutze des weit vorspringenden Daches, auf zwei krummen Riegeln ruhte, eine vortreffliche Unterhaltung, wenn es auch, wie in diesem Augenblicke, schlechterdings nichts Anderes auf dem Meere zu sehen gab, als im Morgenwind lustig tanzende, hier und da schaumgekrönte Wellen.

Aber heute sah der gute Jochen auch nicht einmal die schaumgekrönten Wellen; er sah eben gar nichts; dennoch hatte sein breites Gesicht, als er nach fünf Minuten das Teleskop absetzte und zusammenschob, einen so sorgenvollen Ausdruck, als habe er ein Vollschiff beobachtet, das bei starkem Nordoststurm aus den Wiessower Haken trieb, und sein Nachbar, der Lootsencommandeur Bonsak, habe gesagt, das Schiff sei nicht mehr zu retten.

Und denselben sorgenvollen Ausdruck hatte das volle Gesicht seiner Stine, die eben in der Hausthür erschien und, die beiden sonst so geschäftigen Hände müßig unter der Schürze, in den blauen, mit weißen, glänzenden Wolken bestreuten Morgenhimmel zu starren begann, ohne ihren Jochen, der sechs Schritte vor ihr stand, auch nur zu bemerken.

„Nein, nein!“ seufzte Stine.

„Ja, ja!“ sagte Jochen.

„Jochen, wie Du mich wieder erschreckt hast!“

„Es ist auch schrecklich, wenn man es recht bedenkt,“ sagte Jochen.

Jochen hatte wieder das Teleskop auseinandergeschoben und wollte offenbar seine Beobachtungen von vorhin fortsetzen; aber Stine nahm ihm das Instrument aus den Händen, legte es auf seinen Platz und sagte etwas gereizt: „Was Du nur immer durch das alte Ding zu sehen hast, und ich weiß vor Sorgen nicht, wo mir der Kopf steht.“

„Ja, wenn Du es nicht weißt, Stine!“

„Woher soll ich es wissen? Wofür bist Du denn der Mann, wenn ich armes Wurm Alles wissen soll? Und eben hat sie mich wieder gefragt, ob der Schwede noch nicht da ist. Das arme Mädchen! Auf so einer Nußschale von einer Yacht die weite Reise! Und wer weiß denn, ob Die drüben sie werden haben wollen! Sie sind ja nur noch in viertem und fünftem Gliede miteinander verwandt!“

Stine hatte in großer Erregung, aber mit gesenkter Stimme gesprochen, und sie hatte ihren Jochen bis an die Schlehdornhecke gezogen, die das sandige Gärtchen von der sandigen Dorfstraße trennte. Jochen hatte eine dunkle Empfindung, daß er, als Mann und Gatte und als einziger Gastwirth von Wiessow, etwas sagen müsse, und so sagte er denn: „Stine, Du sollst sehen, da finden wir Beide nicht durch.“

„Jochen, ich hätte nicht gedacht, daß Du so schlecht wärest!“ rief Stine, indem sie, schluchzend und die beiden rothen Hände in die Augen drückend, sich von ihrem Eheherrn wandte und in das Haus zurückging.

Jochen war an der Hecke stehen geblieben und hob die beiden Arme; aber das Teleskop lag ruhig auf seinen Riegeln, und er wagte in Anbetracht seiner Schlechtigkeit nicht, den Sorgenbrecher zu holen. So ließ er denn die Arme wieder sinken und steckte die Hände in die Taschen. Gott sei Dank, da war seine Pfeife! Sie hatte jetzt viele müßige Stunden, Stine konnte das Rauchen gar nicht leiden; und wenn sie ihn jetzt rauchen sähe, wo sie so schon so böse war, würde sie ja wohl gar nicht wieder gut.

Jochen ließ die Pfeife wieder in die Tasche gleiten und starrte auf das schimmernde Meer, wie Jemand, der auch ohne optisches Instrument nur zu deutlich die Unglücksstelle sieht, auf der soeben das prächtigste Schiff mit Mann und Maus untergegangen.

„Guten Morgen, Prebrow!“ sagte eine Stimme in seiner unmittelbaren Nähe.

Jochen wandte seine blauen Augen aus der Ferne langsam zu dem Herrn, der, den Kragen seines Paletot in die Höhe geschlagen, eben mit schnellen Schritten an der Hecke vorüberging.

„Guten Morgen, Herr In–“

„St!“ sagte der Herr, stehen bleibend und den Finger auf den Mund legend.

Jochen nickte, zum Zeichen des Einverständnisses.

„Heute Abend!“ fuhr der Herr fort; „ich sage es Euch, weil, nachdem bis jetzt Alles gut gegangen, doch noch Jemand in der letzten Stunde Verdacht schöpfen und sich bei Euch erkundigen könnte, Ihr kennt mich natürlich nicht.“

„Gott bewahre!“ erwiderte Jochen.

Der Herr nickte und wollte seinen Weg fortsetzen, blieb dann aber wieder stehen und sagte, da ihm der bekümmerte Ausdruck von Jochen’s Gesicht aufgefallen war: „Ihr braucht Euch das nicht zu Herzen zu nehmen, Prebrow; den Rahnkes geschieht recht, ihr Treiben ist eine Schande für Wiessow und die ganze Gegend, und schließlich wird Keiner sein, der nicht froh wäre, daß Ihr die Halunken los seid. Und wenn ich das nächste Mal komme, Prebrow, logire ich natürlich bei Euch; diesmal muß ich Verstecken spielen.“

Der Herr nickte, entfernte sich mit leichten Schritten und trat in das Haus des Lootsencommandeurs, nachdem er sich vorher schnell nach allen Seiten umgesehen hatte.

„Eine verdammte Geschichte,“ murmelte Jochen, ohne genau zu wissen, welche von den beiden er meine, die, so in seinem Hause spielte, oder die andere, von welcher der Herr Steuerinspector eben gesprochen. Es war doch wohl die erste, die zweite ging ihn ja gar nichts an; aber es war doch wieder ein Geheimniß mehr, und er hatte an dem einen schon viel zu viel.

„Guten Morgen, Jochen!“

Diesmal aber bekam Jochen doch einen richtigen Schrecken. Da stand sein Clas-Bruder genau auf derselben Stelle, wo eben der Herr Inspector gestanden.

„Ja, mein Gott, Clas, wo kommst Du her?“ rief er.

„Ja, das sagst Du wohl, Jochen,“ erwiderte Clas.

Die beiden Brüder blickten über die hohe Hecke einander so forschend in die Augen, als ob sie keineswegs von Kindesbeinen an die besten Freunde gewesen.

„Ist Vater todt?“ fragte Jochen langsam.

„Gott soll mich bewahren,“ erwiderte Clas.

„Ist die Schmiede abgebrannt?“

„I, Jochen, wie kannst Du so’n dummes Zeug fragen!“

Die Brücke der Verständigung schien abgebrochen. Die Empfindung, daß die ganze Welt ein einziges dunkles Geheimniß und er der unglückliche Mensch sei, der dies Geheimniß zu hüten habe, bemächtigte sich Jochen’s immer mehr.

„Willst Du nicht hereinkommen, Clas?“ sagte er.

Er mußte es doch sagen; er konnte doch nicht seinen einzigen Bruder, der noch dazu der ältere war, draußen auf der Straße stehen lassen.

Clas Prebrow kam der brüderlichen Einladung, in wie unbrüderlichem Ton dieselbe auch gemacht war, sofort nach, schüttelte Jochen die Hand und sagte, seine Blicke über das Haus gleiten lassend: „Du wohnst hier schön, Jochen.“

Jochen nickte.

„Und hast wohl recht viele Gäste?“

„Was geht Dich das an!“ rief Jochen mit einer Heftigkeit, als gälte es eine schwere Beleidigung zurückzuweisen.

„Nun, ich frage nur so,“ sagte Clas.

„Hier wohnt gar Keiner,“ rief Jochen, „gar kein Mensch!“ und er vertrat dem auf das Haus Zuschreitenden den Weg.

„Das ist ja schön,“ sagte Clas, „dann kann ich nur gleich wieder umkehren und dem alten Herrn Wenhof und Herrn Gotthold sagen, daß sie bei Dir unterkommen werden.“

Jochen stand ganz erstarrt. Was sollte er thun? er hatte zu schweigen versprochen; aber was konnte das Schweigen helfen, wenn der Herr Gotthold geradeswegs in das Haus kam, und der alte Herr dazu, vor dem er einen so heillosen Respect hatte? Wenn ihn der mit den alten hellen Augen ansah, da mußte er ja Alles sagen, und: „Stine, Stine!“ rief Jochen mit einer Stimme, als ob das einzige Gast- und Wirthshaus von Wiessow vom Grunde bis zum Giebel in Flammen stände.

„Jochen, bist Du ganz unklug geworden? denkst Du denn gar nicht –“

Stine, die auf ihres Gatten Zetergeschrei alsbald aus dem Hause gestürzt kam, brach plötzlich ab und starrte ihren Schwager mit offenem Munde und weit aufgerissenen Augen an.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_783.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)