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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

„Siehst Du wohl!“ sagte Jochen mit großer Genugthuung.

„Wo ist er?“ sagte Stine.

Clas Prebrow fühlte, daß seine diplomatische Zurückhaltung der klugen Stine gegenüber nicht mehr angebracht sei, und daß er in diesem Stadium seiner Mission die Maske fallen lassen müsse. So rieb er sich denn vergnügt die großen, harten schwärzlichen Hände, zeigte seine weißen Zähne, wurde dann plötzlich wieder ganz ernsthaft und sagte, indem er seine Blicke über die Fensterreihe der oberen Etage laufen ließ: „Wäre es nicht besser, wenn wir hineingingen?“

Sie gingen hinein und gleich in die kleine Wohnstube, die hinter der großen Gaststube lag und die Stine nur noch für einen Augenblick verließ, um aus dem Schrank der Gaststube eine Flasche Rum und zwei Gläser zu holen, damit die Brüder anstoßen könnten und Clas die Zunge nicht trocken würde, im Fall er viel zu erzählen hätte.

Clas hätte wohl viel zu erzählen gehabt; aber in Erwägung, daß die Herren auf seine Wiederkehr warteten, machte er es kurz.

Sie waren noch am ersten Abend auf die rechte Spur gekommen, hatten sie aber am folgenden Tage wieder verloren, weil die Frau in Gulwitz den Wagen, welchen sie in Ralow genommen, verlassen und zu Fuß weiter gegangen war, um ihre Spur zu verwischen. Das war ihr denn auch so gut gelungen, daß sie ganze vierundzwanzig Stunden brauchten, um gestern Abend spät in Trentow die verlorene wieder zu finden. Nun wäre es ihnen freilich kaum noch zweifelhaft gewesen, wohin sich die Frau gewandt; aber sie hatten schon am Mittag den Wagen und die Pferde bei dem Herrn von Schoritz auf Schoritz, der ein guter Bekannter von Herrn Gotthold sei, stehen lassen, um zu Fuß weiter zu gehen, um Herrn Brandow in die Irre zu führen, im Fall der hinter ihnen her sei; und da hatten sie denn doch in Trentow ein paar Stunden ruhen müssen, und heute kamen sie nun von Trentow und er sei vorausgelaufen, weniger um zu erkunden, ob die Frau hier sei, als um die Schwägerin zu bitten, daß sie die Frau vorbereiten solle, damit sie nicht gar zu sehr erschrecke.

„Ach, du lieber Gott,“ sagte Stine, „das arme, arme Kind! wir haben ihr ja in die Hand versprechen müssen, daß wir sie nicht verrathen wollen!“

„Stine, wir Beide finden da nicht durch!“ sagte Jochen.

Stine hatte im Grunde nie daran gezweifelt; ja sie hatte immerfort gebetet, daß der Himmel ein Einsehen haben und ihnen den Herrn Gotthold schicken möge, bevor es zu spät sei. Sie konnte das nun freilich nicht laut bekennen, mochte aber auch dem Versprechen, das sie Cäcilien gegeben, nicht geradezu untreu werden und fing in dieser ihrer Verlegenheit bitterlich zu weinen an.

Jochen nickte beifällig, als wolle er seiner Stine bezeugen, daß sie jetzt den rechten Gesichtspunkt gefaßt habe; Clas trank sein Glas aus und sagte aufstehend: „In einer Viertelstunde sind wir also hier. Du, Stine, Du bist ja eine so kluge Person, Du wirst Deine Sache schon machen; und Du, Jochen, kannst mit mir kommen.“

Jochen kam mit einer solchen Eilfertigkeit in die Höhe und zur Stube hinaus, daß er sein Glas halbvoll stehen ließ. Stine wollte den Rest wieder in die Flasche gießen, trank ihn aber in ihrer Zerstreuung selbst. Die Augen gingen ihr über: „Wir armen Frauen!“ sagte sie.




29.


Cäcilie war, als Stine sie vorhin verlassen, an dem Bettchen ihres Kindes sitzen geblieben. Gretchen war eingeschlafen; und nun erschien der Mutter das holde kleine Gesicht noch bleicher und die feinen weißen Händchen zuckten manchmal leise. Wenn sie ernstlich krank würde? wenn sie stürbe und all der Graus und all das Herzweh dieser Stunden wäre umsonst erduldet?

Sie drückte die Hände gegen die Schläfe. Niemand, Niemand, der ihr rathen und helfen konnte! Und noch war sie bei Freunden, bei ihrer guten, alten Stine, die sie gestern mit Freudeweinen empfangen, die vor Glück und Jammer über den unerwarteten Besuch sich gar nicht zu fassen vermochte, bei dem wackern Jochen, dessen biedres Gesicht in die Erinnerungen ihrer frischen Jugendspiele freundlich hineinschaute – wie verlassen würde sie sich erst fühlen da drüben in dem fremden Lande! Würde man sie nicht als Abenteurerin ansehen, behandeln? und durfte sie es den Leuten verdenken? Sprach denn nicht Alles gegen sie? konnte sie aller Welt, konnte sie nur einem Menschen ihre jammervolle Geschichte erzählen?

Die wühlende Unruhe trieb sie von ihrem Sitze auf in die Nebenstube an das Fenster. Zwischen den Giebeln der Nachbarhäuser und den weißen Dünen blickte ein großes Stück blauer See herein; auf der Höhe ein blinkendes Segel. Es war ein frisches, farbenkräftiges Bild in dem Rahmen des niedrigen Fensters und sie sah es mit den Augen, mit denen er sie die Natur zu sehen gelehrt hatte; und dann dachte sie daran, daß diese öde Wasserwüste mit dem einsamen Schiff, welches seine einsame Bahn in die unbekannte Ferne zog, für sie, für ihr Kind grauenhafte, erbarmungslose Wirklichkeit war.

Ihr Haupt sank in die Hand; sie vernahm nicht das leise Geräusch vor der Thür und blickte erst auf, als die Thür geöffnet wurde und Stine mit ängstlich spähendem, freudig-verlegenem Ausdruck auf dem vom Weinen gerötheten Gesicht hereintrat und dann nach Jemand sich umschaute, der hinter ihr stand. Eine Ahnung, die ihr das Blut zum Herzen trieb, durchzuckte Cäcilien. Wer konnte die dunkle Gestalt in dem Gange sein, als der Eine, nach dem sie sich so grenzenlos gesehnt, auf dessen Kommen sie geharrt und gehofft hatte, wie der Gläubige auf ein Wunder harrt und hofft. – Nun war er da, weil er sie liebte – und doch und doch! es konnte, es durfte nicht sein; und sie ließ die halberhobenen Arme wieder sinken und ihre zitternden Hände erwiderten nicht den Druck der seinen.

„Wo ist Gretchen?“

Sie traten an das Bett der Kleinen, wohin ihnen die gute Stine vorausgeeilt war. Die blassen Wänglein waren jetzt geröthet, heftiger zuckten die Händchen; Cäciliens banger Blick sagte, was erst über ihre zuckenden Lippen kam, als sie bereits wieder in der Nebenstube waren: „Wenn sie stirbt, ich habe sie doch getödtet.“

„Sie wird nicht sterben,“ erwiderte Gotthold, „aber Du darfst nichts Gewaltsames beschließen; Du darfst nicht allein weiterkämpfen wollen, nicht meine Hülfe verschmähen, wie Du es bis jetzt gethan hast.“

„Damit ich Dich, der Du unschuldig an diesem Elend bist, mit in das Verderben ziehe! ich habe es nur schon zu sehr gethan, aber weiter – nimmermehr!“

„Was nennst Du weiter, Cäcilie? Ich liebe Dich, damit ist Alles gesagt, damit ist ein einziger Kreis um unser Beider Dasein geschlungen. Was könntest Du leiden, was ich nicht mit Dir litte? ja, ist nicht selbst Dein vergangenes Leiden meines geworden? und immer meines gewesen? hat dies Alles nicht als dumpfe, bange Ahnung immerdar um meine Seele gedämmert und mir einen Schleier über das hellste Leben gedeckt? Ja, Cäcilie, – wenn ich das bedenke, ich muß sagen: Gott sei Dank! Gott sei Dank, daß der Schleier zerrissen ist, daß das Leben vor mir liegt, wie es ist, wenn auch Schwierigkeiten und Hindernisse aller Art unsern Weg gänzlich zu versperren drohen. Wir werden sie besiegen. Hätte ich je daran gezweifelt, jetzt zweifle ich nicht mehr, jetzt, wo Du mir zurückgegeben bist.“

Er hatte, neben ihr sitzend, den Mund ihrem Ohr genähert; seine tiefe Stimme wurde fast unhörbar leise, aber sie verstand jede Silbe, und jede Silbe schnitt ihr in’s Herz.

„Mir, Cäcilie, mir! Du hättest nicht Dich und Dein Kind allein, Du hättest auch mich getödtet. Nun, da Dir eine Stimme, die Du ewig heilig halten mußt, an deren Wahrhaftigkeit Du nie und nimmer den leisesten Zweifel haben darfst, zugerufen hat: lebe! so lebst Du eben mir, denn, Cäcilie, Du kannst nicht ohne mich leben.“

„Und nicht mit Dir!“ rief Cäcilie, die Hände ringend. „Nein, sieh mich nicht so fragend vorwurfsvoll an mit Deinen treuen Augen, Du Guter, Lieber! Ich möchte Dir ja Alles sagen, aber ich kann es nicht; vielleicht einer Frau, und der, wenn sie die rechte Frau wäre, brauchte ich es nicht zu sagen, sie würde mich auch so verstehen.“

„Du liebst mich nicht, wie Du den Mann lieben mußt, von dem Du jedes Opfer annehmen könntest, annehmen würdest, weil die Liebe eben kein Opfer kennt, die wahre Liebe, die Alles duldet und Alles leidet; und Deine Liebe ist die wahre nicht!“

Er sagte es ohne Bitterkeit; aber sein Athem ging schwer und seine Lippen zuckten.


(Fortsetzung folgt.)


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