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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

das „Rabennest“ und Aehnliches. Die drastische Komik dieser Bilder gleitet am Kinde völlig wirkungslos ab; es glotzt uns verwundert an, wenn es sieht, wie wir uns vor Lachen darüber ausschütten. Unter den „deutschen“ Bilderbogen namentlich sind eine Reihe wahrhaft künstlerischer Blätter – und um was für einen billigen Preis! Der ärmste Mann, der seinem Kinde drei solche Bilderbogen à 1 Sgr. auf den Weihnachtstisch legt, erzeigt ihm eine größere Wohlthat, als wenn er ihm solch ein buntbeklextes „schönes Bilderbuch“ für 3 Sgr. kauft. Halbwegs bemittelte Eltern machen wir aufmerksam auf die ganz vorzüglichen gut colorirten „Bilder für den Anschauungsunterricht“ (Eßlingen, Schreiber), namentlich auf die ersten drei Hefte: 1. Gegenstände des täglichen Lebens; 2. Gift- und Culturpflanzen; 3. Naturgegenstände (à 15/6 Thlr.). Für das ganz kleine Gesindel aber, für die Leutchen, deren Zergliederungstrieb noch nicht in die gehörigen Schranken gewiesen ist, giebt es nichts Besseres als die sogenannten „unzerreißbaren“ Bilderbücher. Sie sind zwar, was die Ausführung der Bilder betrifft, nicht besser als ihres Gleichen, aber sie bieten in buntem Wechsel eine Menge brauchbaren Anschauungsstoffes und enthalten sich aller Lyrik.

So wären wir denn mit unseren Vorschlägen für den Weihnachtstisch zu Ende – und doch noch nicht zu Ende. Noch haben wir einer Gattung von Jugendschriften nicht gedacht, die sich einer ganz besondern Beliebtheit erfreuen, die Jahr für Jahr in neuer Gestalt sich einstellen und immer wieder die bereitwilligsten Käufer finden; wir meinen die sogenannten „Jugendalbums“, „Jugendfreunde“, „Jugendblätter“, „Töchteralbums“ und wie sie sonst noch heißen. Was bezwecken diese eigentlich? Sie bringen in buntestem Durcheinander bald gemachte Kindergeschichten und Kindergedichte, bald kleine belehrende Aufsätze aus der Geschichte, Geographie und den Naturwissenschaften, bald Reisebilder, Jagdskizzen, Sprüche und Räthsel, und das Alles illustrirt durch Lithographie, Holzschnitte und colorirte Bilder; sie sind also, um es kurz zu sagen, Potpourris, Sammelsurien aus allen drei Gebieten der Jugendliteratur.

Man kommt angesichts solcher Bücher nie über die zweifelnde Frage hinaus: Ist es wirklich arglose Thorheit, oder ist es arge Dreistigkeit, die solch einen Mischmasch zusammenbraut und unserer Jugend als geistige Kost vorsetzt? Wir wollen annehmen, daß Alle, die zur Herstellung eines solchen Machwerks ihre Hand bieten, in gutem Glauben handeln, und daß sie nicht um bloßen Geldgewinnes willen daran mitarbeiten helfen. Man frage sich aber doch einmal ernstlich und ruhig, was bei diesen Büchern herauskommt. Meist fehlen den darin behandelten Gegenständen alle Anknüpfungspunkte an die jeweiligen Kenntnisse des Kindes; so stehen sie unvermittelt da und gehen ebenso rasch wieder verloren, wie sie aufgenommen wurden. Das Kind gewinnt nicht nur nichts bei dieser Beschäftigung, sondern es verliert sogar dabei. Unsere ganze moderne Pädagogik drängt nach „Concentration“ des Unterrichts, sie sucht die Lehrstoffe möglichst mit einander zu verbinden, zu einander in Beziehung zu setzen, damit sie sich gegenseitig stützen und befestigen; diese Bestrebungen werden durch solche Erzeugnisse der Jugendliteratur durchaus wieder in Frage gestellt, ja, es wird ihnen in der unbesonnensten Weise entgegengearbeitet. Was hat das Kind davon, wenn es in der einen Viertelstunde etwas von einem italienischen Maler, in der nächsten eine Geschichte vom „Onkel Martin“, in der dritten etwas über den „alten Fritz“, dann wieder über die Buschmänner, über den Fabeldichter Aesop, über das Känguruh und über einen beliebigen Seesturm liest? Sittliches Unheil freilich wird bei diesem Kunterbunt nicht angerichtet; mitunter bleibt vielleicht sogar diese oder jene Notiz verlorener Weise im Gedächtniß hängen, und das würde ja sogar ein kleiner Gewinn sein; daß aber durch dieses unaufhörliche Herumflattern von einem Gegenstande zum andern die geistige Kraft zersplittert, die jugendliche Phantasie, dieses köstliche Gut, das, verständig geleitet, einen der mächtigsten Factoren der Erziehung abgeben kann, gemißbraucht und vergeudet wird, das ist doch sonnenklar. Die Kinder gewöhnen sich nicht, einen umfangreichen, zusammenhängenden Stoff zu übersehen und zu bewältigen, sie jagen nippend und naschend von einem zum andern. Wo soll dann im späteren Leben die Fähigkeit herkommen, sich mit Ernst und Liebe in einen Gegenstand zu vertiefen, wenn man die Kinder systematisch zu oberflächlicher Halbwisserei erzieht? Mehr und mehr empfindet man in unserer Zeit die Nothwendigkeit, Fortbildungsschulen zu errichten und die Schulzeit bis zum sechszehnten Jahre auszudehnen, weil die erhöhten Bildungsziele in der bisherigen Frist nicht mehr zu erreichen sind. Und doch erschwert man unüberlegter Weise auf der anderen Seite die Erreichung dieser Ziele, indem man schon die Kinder zu einem plan- und zwecklosen Aufschnappen aller möglichen gleichgültigen Dinge anleitet.

Im vorigen Artikel haben wir die Anforderungen zusammengestellt, die eine wahrhaft gute Jugendschrift zu erfüllen hat. Eine haben wir dabei absichtlich übergangen, um sie hier am Schlusse auszusprechen, nicht weil sie die unwichtigste, sondern gerade weil sie die oberste und wichtigste von allen ist; sie ergiebt sich aus dem eben Entwickelten von selbst und lautet: Der Stoff soll jederzeit ein ganzer und einheitlicher sein.

Wir bilden uns nicht ein, in dem Vorstehenden auch nur einen annähernd erschöpfenden Ueberblick über die gute Jugendliteratur gegeben zu haben. Es kam uns viel mehr darauf an, die Principien der Auswahl zu erörtern, als einzelne Vorschläge zu machen. Zwischen Knaben und Mädchen haben wir absichtlich nicht unterschieden; giebt es denn eine besondere Poesie, Wissenschaft und Kunst für Frauen? Ebenso haben wir Altersunterschiede in der Regel nicht ausdrücklich berücksichtigt. Es ist thöricht zu sagen, das eine Buch sei für Kinder von acht bis zehn, das andere für Kinder von zehn bis zwölf Jahren. Die Eltern müssen am besten wissen, was sie ihren Kindern bieten können. Hier kommt es nicht auf die Jahre, sondern auf geistige Befähigung, auf den Bildungsgrad des Elternhauses und auf den genossenen Unterricht an. Endlich möchten wir noch den Vorwurf zurückweisen, daß wir nur lauter ziemlich theure Sachen aufgeführt haben. Gute Artikel sind noch auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit theurer gewesen als schlechte; das kann auch bei den Büchern nicht anders sein.




Der Fürst und die Bürgerstochter.


Einige französische Physiologen haben die Behauptung aufgestellt, daß der Mensch mit siebzig Jahren eigentlich noch nicht alt sei. Der Geist erlange vielmehr zwischen dem fünfzigsten und achtzigsten Jahre, bisweilen auch noch später, eine wahrhaft auffallende Spannkraft, Festigkeit und Stärke, es sei dies gerade diejenige Lebensperiode, wo der Mensch auf der Höhe seiner Kraft stände. Unsere gewöhnliche Erfahrung widerspricht leider diesen theoretischen Sätzen, so weit sie als Regel gelten wollen, um so ergriffener aber und ehrfurchtsvoller stehen wir vor den Beispielen wunderkräftiger Lebensenergie, die sie allein aus unserm Jahrhundert für sich anführen können. Auch der erst im letzten Jahre verstorbene Fürst Pückler-Muskau gehörte zu den bevorzugten Organisationen, die der Zeit ihr trauriges Zerstörungswerk unendlich sauer gemacht. Nicht blos weil er über die gewöhnliche Frist hinaus geathmet hat, sondern weil ihm unter dem Schnee und erkältenden Hauch des hohen Alters noch ein zweiter Frühling erblühet war, ein sonniger aus ureigener Lebenswärme quellender Geistes- und Herzens-Frühling in jenen Tagen, wo Millionen schon längst erbleichend das müde und welke Haupt gesenkt.

Fürst Pückler war schon ein Fünfziger, als seine ersten Bücher ein ganz ungewöhnliches Aufsehen erregten und heute schon ergraueten Leuten wie märchenhafte Sagen in die Ohren klang, was sie von der genialen Abenteuerlichkeit, den seltsamen Neigungen und Manieren des ritterlichen Welt- und Wüstenfahrers hörten. Was seitdem länger als dreißig Jahre hindurch an berechtigter Anklage und beißendem Spott, an Aeußerungen der Bewunderung und des begeisterten Lobes über ihn laut geworden, soll uns hier nur wenig beschäftigen. Ein Beieinander von ausgeprägt hervorstechenden und doch einander widersprechenden Eigenthümlichkeiten, von großen und mannigfach schlimmen und auch Aergerniß erregenden Eigenschaften, wie sie in dieser glänzenden und zauberartig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_823.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)