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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

schaukelte ich da in frischer, freier Morgenluft zwischen Erde und Himmel. In weniger als zwei Minuten war ich mittelst eines kunstgerechten Turnergriffes im Gefängnißhofe angelangt, der, von oben gesehen, soeben noch „bergetief, in purpurner Finsterniß“ dalag.

Die ziemlich starke Thür nach dem größeren Garten war geschlossen. Ein Druck mit einem Klafterhobel aus dem Holzhause genügte, um den Schloßkloben aus der Wand zu sprengen. Inzwischen schwebte auch Blankmeister majestätisch zwischen Himmel und Erde, und sein Hemd flatterte siegverheißend durch die verwundeten Unaussprechlichen im Sommermorgenwinde. Niemand hatte uns gehört; es war ein Glück für uns; aber auch ein Glück für etwaige Verfolger, denn wir waren fest entschlossen, unseren Sieg zu vertheidigen bis auf’s Messer. Wie zwei Hirsche, die nach frischem Wasser lechzen, setzten wir durch den größeren Garten und hatten eben den Riesenschwung über den Zaun vollendet, als der dicke Schießhauswirth, der selige Klarner, der damalige Herbergsvater der Demokratenzunft, vom nahen Schießhause hergetrollt kam. Wir hielten es für besser, ihm heute keinen „Guten Morgen, Herr Klarner!“ zuzurufen, denn unter solchen Umständen gilt Schiller’s praktisch-poetische Anweisung:

 „– – Jeder treibt
Sich an dem Andern rasch und fremd vorüber
Und fraget nicht nach seinem Schmerz.“ –

Wir schwenkten kühn gerade gegen die Stadt zu, um noch zeitig genug das rechte Ufer der Elster, die Straße nach dem Städtchen Schöneck und somit den geraden Weg nach dem Innern von Sachsen zu gewinnen. Während des Dauerlaufs waren zwischen Blankmeister und mir zwei Hauptfragen entschieden worden. Er wollte in die Stadt, um seiner Frau Lebewohl zu sagen; ich ließ es nicht zu, denn dies hätte geheißen, sich wieder fangen lassen. Dann drang er darauf, direct die Flucht über die nahe böhmische und bairische Grenze zu nehmen. Auch diesen Vorschlag bekämpfte ich aus strategischen Gründen; denn wir hätten dort über zwei damals scharf besetzte Grenzen hinüber gemußt und Alles würde uns gerade dort zuerst gesucht haben, während uns auf den von mir geplanten Wegen kein Mensch vermuthete. Also hinein in die voigtländischen Wälder!

Blankmeister erkannte die Richtigkeit meiner Folgerungen – denn ich vermied ja selbst meinen nahen Heimathsort –, und nun ging es um Adorf herum, beim Kirchhofe hinunter, ruhigen Schrittes, damit wir kein Aufsehen erregten, gegen die Elster-Brücke, allwo zwei einsame Schlagbäume mir Gelegenheit boten, dem damaligen Herrn Straßengeldeinnehmer, der mich im vorigen Jahre so liebevoll in’s Gefängniß kutschirt hatte, noch „ein stilles Adje“ zuzurufen. Unser Zweigespann gab diesmal aber kein Chaussee-, sondern nur brav Fersengeld.

Wir hatten Beide einen Höllendurst, wie wir wohl seit den Flitterwochen unserer Studentenzeit keinen empfunden hatten. Lockend lag das Adorfer Feldschlößchen vor uns, allwo Frau Becker (nun auch schon todt), als Wittwe eines der ersten obervoigtländischen Vorkämpfer für deutsche Einheit und Freiheit, ein Allerbestes ihren Gästen bot, aber – da war keine Zeit zum Durstlöschen. Fort ging es in angestrengtem Dauerlaufe die Bergstraße hinauf, Schöneck zu, dem alten freien Reichsstädtchen, hoch oben auf waldiger Höhe zwischen Ober- und Untervoigtland, zwischen Bauer und Stadtbürger mitten drin liegend. Hier und da begegnete uns ein früher Wanderer, allein wir zogen dann sofort Faust’s Zauberkäppchen in Gestalt eines Roggenfeldes über die Ohren und machten uns unsichtbar. Endlich – noch stak die Sonne hinter den Bergen, aber die Dämmerung hellte sichtlich empor – erreichten wir den Wald.

Ich habe den Wald unendlich lieb, aber so mit Inbrunst an’s Herz gedrückt habe ich ihn niemals wieder. Jeden Baum hätte ich umarmen mögen; waren es doch alle uralte Bekannte, die mit dem Knaben und Jüngling aufgewachsen waren und die ich so manches Mal besucht und begrüßt hatte, die lieben, dunkelgrünen Säulen meiner heimathlichen Berge!

„Sei gegrüßt, liebherz’ger Wald,
Sei gegrüßt viel’ Tausendmal!“

Und der alte liebe Kumpan nickte freundlich mit seinen Morgenwipfeln, flüsterte leise seinen Gegengruß und hüllte uns barmherzig in seinen schatten- und faltenreichen Mantel, wusch uns die rußigen Gesichter und Hände mit seinem plätschernden Waldbache, reichte uns im kleinen stillen Moosteiche einen krystallenen Spiegel zur nöthigen Morgentoilette und verstärkte unsere hausbackenen Dolche mit zwei kräftigen Wanderstäben aus des Bergwachholders urzähem Stamme, um etwaigen Widersachern ein bedeutsam Wörtlein von altvoigtländischer Kraft damit hinter die Ohren schreiben zu können. Der Wald credenzte aber auch den Halbverschmachteten kühlenden Labetrunk aus frisch-sprudelnder Quelle und deckte uns auf freier Haide gastfreundlich die Morgen-, Mittags- und Abendtafel mit köstlichem Gebeere von aller Art –

„Wie es der Wand’rer findet in den Bergen.“

Jetzt erst sahen wir einander an. Wir waren prächtige Kerle! Trotz erster und zweiter Mohrenwäsche waren wir immer noch „Ebenholz“, und Blankmeister mit seinem struppigen Vollbarte, in mächtigen Filzschuhen zu Ende Juli, in der Rechten den wuchtigen Wachholder, glich auf’s Haar einem riesigen Gnomen der Unterwelt, oder noch besser einem in der Umwandlung begriffenen Darwin’schen „Menschenwerder“. Betrachtete ich ihn und mich in irgend einem Wasserspiegel des Waldes, so glichen wir Beide vollkommen Dem, was wir waren – zwei soeben dem Zuchthause Entlaufenen.

Nach kurzer Zeit bogen wir um das Städtchen Schöneck herum, warfen dem idyllischen „Waldhaus“ und wohl mehr noch dessen frischem „Waldkeller“ einen freundlichen Blick zu und schlugen uns, wie Seume’s Indianer, rechtwärts in die Büsche, obgleich wir auf classisch-demokratischem Boden standen. Hier, auf weitem, waldumkräuztem Felde, hatten wir im Juni des Jahres 1848 die erste große Volksversammlung des Voigtlandes gehalten. Aus allen Thälern, weit und breit, ja selbst aus Böhmen und Baiern, hatten sich freiheitbegeisterte Männer eingefunden, und dort, am schattigen Waldhaus, wurde noch lange von den riesigen Bierfässern herab fortgerednert, bis die Sonne sich neigte vor dem unvergeßlichen Tage. Droben in der alterthümlichen Oberstube aber saßen, von da an, zu öfterem die Führer der voigtländischen Vaterlandsvereine zusammen und sahen hoffnungsreich hinab auf das blaugrüne, prachtvolle Waldmeer.

„Ganz wie Amerika!“ rief ich einst in jugendlicher Schwärmerei aus.

„Möcht’ es so sein!“ erwiderte mir ein alter, ehrlicher Fabrikant; „wird es aber wieder nichts, wie Anno 30, so schnür’ ich meinen Bündel und gehe noch in meinen alten Tagen hinüber in’s Land der Freiheit.“

Ich sah den Alten mitleidig an. Meine Jugend konnte die Möglichkeit eines Rückschlages gar nicht fassen, und nun, kaum drei Jahre später, stand ich barfuß, heimathlos, geächtet, verfolgt, ohne Obdach und ohne Kleider, zu zwölf Jahren Zuchthaus verurtheilt, vor demselben Hause, vor derselben wunderlieblichen Waldlandschaft, mich weislich in den Büschen bergend, auf unsicherer, dornenvoller Flucht nach – Amerika ober einem anderen freien Lande.

Sollte der alte Prophet von Auerbach noch leben, so sei er recht herzlich von der freien Schweiz aus gegrüßt, nach fünfundzwanzig Jahren! Ich habe seiner oftmals gedacht.

Hier hatten wir den nördlichen Chimborasso des Voigtlandes passirt. Eine Stunde weiter abwärts deckte uns Meister Jungwald geschäftig die Mittagstafel und servirte gastfreundlich seine saftigsten Heidelbeeren. Dann stiegen wir in ein enges, von Bergwassern ausgewaschenes Thälchen hinab und nahmen im sonnigblinkenden Waldbach, tiefverborgen und wohlversteckt, ein herzhaftes Bad, um uns den amtlichen Ruß des Gefängnißofens sowohl, wie dessen schornsteinfegerlichen Geruch – der aber trotzdem noch wochenlang meine Nase beleidigte – vom Leibe zu waschen. Der Erfolg durfte kein glänzender genannt werden.

Indessen waren meine Strümpfe auf den körnigen Granit- und den dornigen Waldpfaden den Weg aller Strümpfe gegangen, und Blankmeister’s sibirische Filzschuhe hatten ebenfalls des Daseins Zweck erfüllt. So stand ich, wie dereinst der deutsche Kaiser Heinrich der Vierte im Hofe zu Canossa, im Hofe der Natur, barfüßig, verbannt, vogelfrei, aber ohne Büßerhemd, weil ich im Drang des Augenblicks vergessen hatte, eins anzulegen.

Wir waren Beide des Gehens nicht mehr gewöhnt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 29. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_029.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)