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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

geschweige denn des Barfußgehens, und so machte sich denn in unseren Füßen allmählich ein heftiger Trieb zur Arbeitseinstellung geltend. Wir illustrirten sprechend ähnlich das alte Volksbild: „Er geht auf Eiern“. Dazu zwei Nächte nicht geschlafen, denn auch die vorhergehende war unruhvoll, dann die stete Aufregung! Daneben die Beeren und das Brod, die Waldkost, für die wir zwar äußerst dankbar waren, die aber trotz aller vegetarianischen Schwärmerei in solchen Fällen nicht genügt! Wir sehnten uns zu allererst nach des Schusters Rappen.

Doch die Sonne sank hernieder,
Und im Abendglockenklang
Tönte leis’ das Lied der Lieder,
Das so lieb die Mutter sang,
Von dem Schmerz des Heimwehs wieder.

In der Heimath heimathlos, saßen wir am Waldesrand und sahen hinunter in ein freundlich stilles Bergthal. Die Sonne vergoldete mit ihren letzten Strahlen die Kirchthurmspitze eines vor uns liegenden Dörfchens, das, fern vom Getöse der lauten Heerstraßen, der Eisenbahnen und Telegraphen, recht glückliche Menschen zu bergen schien. Ich kannte dieses bescheidene Dorf und hatte als Schüler, als Student und als Philister oftmals diese einsame Oase durchwandert. Mit welchen Gefühlen aber sah ich heute hinab auf die grauen Schindeldächer, mit den rothen oder weißen Schornsteinen, aus denen soeben der blaue Rauch gastlich emporkräuselte, der das einfache Nachtmahl verkündete! Auch unsere Alles bewegende Lebensmaschine sehnte sich dringend nach etwas Verdaulichem, aber Niemand lud uns freundlich zu Gaste; scheu wichen wir der Menschheit aus. Endlich, als die Dämmerung kräftiger herabstieg, stiegen wir empor zu dem Gedanken, alle Sentimentalität an den Nagel des Humors zu hängen, und recitirten aus den „Räubern“, denen wir ähnlich sahen, die trefflichen Worte:

„Heut’ kehren wir beim Pfaffen ein,
Bei reichen Pächtern morgen.“

Im lieben Dörflein Bergen lebte nämlich zur selbigen Zeit der uns wohlbekannte und werthe Pfarrer Röller, der nun auch schon längst in Walhallas Gefilden predigt. Ein Mann von seltenen Talenten, aber schon als Student politisch anrüchig, sintemalen er eifriger Burschenschafter und am Frankfurter Putsch betheiligt gewesen war. Er konnte sich auch noch als Candidatus die lichtere Anschauung der Welt und die Sehnsucht nach einem einigen, großen, freien und starken Deutschland nicht abgewöhnen und er hätte deshalb wohl auch das Schicksal vieler Zukunftspastoren von damals gehabt, das heißt: er wäre ohne Pfarre geblieben, und hätte als armer Hauslehrer oder als beneidenswerther Dorfschulmeister den Abend seines Lebens herbeimagistern können, wenn ihn nicht gerade das Jahr 1848 mit einem demokratisch gesinnten Patronatsherrn zusammengeführt hätte, der ihn ohne langes Federlesen auf die nicht ganz üble Pfründe zu Bergen versetzte. Dieser seltene Kirchenpatron war Wilhelm Adolph von Trützschler auf Falkenstein, Mitglied des deutschen Parlaments zu Frankfurt.

Hut ab! wir sprechen von Trützschler. Welchem Volksmann aus jener Zeit dränge dieser Name eines deutschen Märtyrers nicht durch Herz und Seele? Auch mich ergriff die Erinnerung an diesen grausam geknickten Stamm aus den Bergen des Voigtlandes tief, doppelt tief bei dem Anblick dieses lieblichen Dorfes, einer bescheidenen Stelle, die aber dennoch zu Trützschler’s stillem Wirkungskreise, zu seiner speciellen Heimath gehörte. Der Geist dieses edlen Todten umschwebte uns schützend im seinem Dörfchen. Hier galt es, Proviant aufzutreiben, Kleider und besonders Schuhwerk zu requiriren. Dazu eine Scheere, um unsere sehr überflüssigen Bärte zu beseitigen.

Ich hatte mich mit gutem Vorbedacht nach diesem Dörfchen gewendet. Hier war ich sicher, das Allernöthigste zu erhalten. Die Frau Pfarrerin war meine erste und wärmste Schulliebe und eine wackere Cameradin meiner Knabenzeit gewesen, welches freundliche Verhältniß sich noch in die ersten Jünglingsjahre hineinzog. Frau Pfarrerin war ruhig, fest und entschlossen. „Sie wird gewiß Rath schaffen,“ dachte ich. Die einzige Schwierigkeit war, wie wir in unseren nicht eben modernen Anzügen in’s Pfarrhaus gelangen wollten, ohne Aufsehen zu erregen, denn zu unserer halben Verzweiflung wollte es gar nicht dunkel werden, und außerdem wollten wir das Pochen aus dem Schlafe wohlweislich vermeiden.

Kurz entschlossen, ließ ich Blankmeister im Walde zurück, da seine Gestalt immer noch weitaus die verdächtigere war. Ich sah nach beiderseitigem Urtheile noch leidlich aus, knöpfte den schwarzen Rock über die unbehemdete Brust und wandelte herzhaft auf den Pfarrhof los. Barfüßige Handwerksbursche, die um einen Zehrpfennig und um ein Nachtlager anhielten, waren in jener Gegend gewiß auch nichts Seltenes, und außer der Pfarrfamilie kannte mich Niemand im Dorfe.

Mariens Mutter begegnete mir im Hofe mit einem Kinde auf dem Arme. Sie erkannte mich sofort; allein sie hatte Geistesgegenwart genug, da fremde Leute um uns herum waren, mich nicht zu kennen, und wies mich, wie wahrscheinlich noch manch andern Handwerksburschen, an den Herrn Pfarrer. Der Herr Pfarrer aber, der von jeher etwas ängstlich gewesen war und dem man außerdem zu jener Zeit einen politischen Proceß an den liberalen Hals zu hängen beflissen war – was ich natürlich nicht wissen konnte –, verlor bei meinem nicht ganz gewöhnlichen Anblicke beinahe den Kopf. Glücklicher Weise war er mit mir allein im Zimmer.

„Fritz,“ rief er fast entsetzt aus, „Du machst mich unglücklich. Fort – fort!“

„Ich will nichts von Dir als Brod,“ antwortete ich, „und was ich sonst brauche. Ich rathe Dir, zu geben und zu schweigen, oder ich stecke Dir den rothen Hahn auf’s Dach. Wir sind eine ganze Bande.“

Selbstverständlich brauchte ich diese Drohung, um dem Pfarrer im Falle des Verrathes meiner Einkehr die kräftige Entschuldigung zu ermöglichen, als sei er durch meine fürchterliche Drohung gezwungen worden, mir zu willfahren.

Das Beste war jedoch, daß der Herr Pfarrer verschwand und die Frau Pfarrerin mich ohne langes Besinnen zur Hand nahm. So war ich denn in die rechten Hände gerathen. Sie fürchtete den tollen Jungen von ehedem nicht, der heute als eine Art Räuberhauptmann in ihr Haus gefallen war. Sie schaffte rasch einen Laib Gerstenbrod zur Stelle, schnitt ihn auf und brachte nach voigtländischer Bauernsitte ein gehöriges Stück Butter in ein ausgehöhltes Loch, das hiermit wieder ordnungsgemäß verschlossen und somit transportabel gemacht wurde, brachte zwei Paar Stiefel, zwei Hemden, ein Paar „Unaussprechliche“ für meinen Exbürgermeister, eine flotte Scheere und ein paar Thalerchen Geld – „Mein Liebchen, was willst Du noch mehr?“ – führte mich im tiefsten Zimmer- und Abenddunkel noch zu ihrer Schwester, die krank im Bette lag und sich über meine Flucht beinahe gesund freute; dann ging es, ohne den Herrn Pfarrer noch einmal zu besuchen, das Bündel auf dem Rücken, über einen langen dunkeln Heuboden hinweg, und nach einem kurzen Abschiede, nach einem tiefherzigen „Leb’ wohl, Marie!“ – „Leb’ recht wohl, Fritz, und denke zuweilen an uns!“ – stand ich mit Einem Satze unten im Baumgarten und huschte durch Häuser und Büsche, über Hecken und Zäune wie ein echter und gerechter Zigeuner

Zum Wald, zum Wald,
Zum frischen, grünen Wald.

Dort wurde zuvörderst ernhaft und mit einem echt obervoigtländischen Appetit Gerstenbrod und Butter getafelt. Dann ging es an die Toilette; Hemden und Stiefel wurden mit Wonne angezogen, und zum Schluß schoren wir uns, soweit es der helle Abend noch gestattete, gegenseitig die Bärte aus dem Gesicht, wenn auch nur im Gröbsten. Adieu, mon Henri quatre

Nun wurde der übrige Brocken sorgfältig eingepackt, und vorwärts ging es wieder auf Schusters Rappen und auf geistlichen Sohlen durch das thauige Thal hinab, in die Nacht und in die Fremde hinein

Bei Sturm und Wind marschiren wir,
Der Wald ist unser Nachtquartier,
Der Mond ist uns’re Sonne.

Bei allem Criminalhumor entwickelte sich jedoch immer fühlbarer eine ziemliche Müdigkeit. Ohne uns lange zu besinnen, huschten wir in einen Kornacker und verschwanden in diesem uns vertraut gewordenen Zauberkäppchen. Allein – trotz 29. Juli – Erde und Nacht war kühl. Mein dünner Rock

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_030.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)