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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

aber bei Tage thätig sind. Hierin finde ich die Erklärung aller Fabeln und Unwahrheiten, aller Uebertreibungen und Ausschweifungen, welche die Naturgeschichte der Faulthiere enthält.

Ein bei Tage überraschtes, noch schlaftrunkenes oder doch aus dem gewohnten Geleise gebrachtes Faulthier macht allerdings keinen ansprechenden Eindruck auf den Beschauer. „Träg’ glotzt es in die Welt hinein,“ sagt Scheffel vom Megatherium richtiger, als Schomburgk vom Aï, indem er von „wehmüthigen und bittenden Blicken“ spricht. Eigenthümlich glotzend, wie die aller Nachtthiere, sind auch mir diese Blicke erschienen, und merkwürdig unsicher, wie geistesabwesend, obendrein, nicht aber bittend und wehmüthig. Ohne zu flüchten, läßt es den Menschen an sich herankommen und nur in Ausnahmefällen schickt es sich, wenn man es ergreift und von seinem Aste loszureißen sucht, zur Vertheidigung an.

An eine Abwehr durch Beißen, wie das zweizehige Faulthier ohne Weiteres thut, denkt der Aï nicht; sein Maul ist auch viel zu klein, als daß er ein größeres Glied packen könnte. Hat man die Sichelkrallen, welche das Faulthier sehr fest um den Ast schlägt, glücklich gelöst, und setzt man es auf den flachen Boden, so bewegt es sich hier in wahrhaft erbarmenerweckender Weise. Vergebens müht es sich ab, vorwärts zu kommen, vergebens tastet und greift es mit beiden Vorderfüßen in allen Richtungen umher, in der Absicht, einen ihm passend erscheinenden Anhaltspunkt zu suchen. Gelingt es ihm, solchen zu finden, so hakt es die Sichelkrallen des einen Fußes an ihm fest, streckt schnell den anderen Vorderfuß ebenfalls darnach aus und zieht nunmehr mühsam den Leib nach. Mit ersichtlicher Anstrengung, unter schweren Athemzügen, unsicher in jeder Bewegung, tastend und versuchend, das eben Erstrebte oder Erreichte sofort wieder aufgebend, bald hierhin, bald dorthin sich wendend, kriecht es im Laufe von Stunden thatsächlich nur wenige Schritte weit, und erscheint dann wirklich als ein Stiefkind der Natur, scheint allerdings seinen Namen zu verdienen. Hat es endlich einen Ast erreicht, und ist es im Stande, hier in üblicher Lage sich aufzuhängen, so blickt es noch einige Male in die Runde und nimmt dann so bald wie möglich seine (auf unserer Abbildung unten rechts dargestellte) Schlafstellung an. In sich zusammengeknäuelt, den Kopf auf die Brust gebeugt und zwischen den vier dicht aneinander gepreßten Beinen verborgen, einem an seinen Tragriemen aufgehangenen Ranzen vergleichbar, hängt es an seinem Aste und verharrt fortan regungslos bis zum Einbruche der Dämmerung. Daß man unter all solchen Umständen von den geistigen Eigenschaften des Aï wenig wahrnimmt, muß begreiflich erscheinen, und somit erklären sich auch die absprechenden Urtheile der Reisenden in dieser Beziehung.

In den Augen einzelner Naturforscher gelten die Faulthiere als stumpfsinnige, geistlose, dummgleichgültige Geschöpfe. Man sagt ihnen nach, daß sie weder Leidenschaften noch andere geistige Regungen bekunden, weder Liebe noch Haß, weder Freundschaft noch Feindschaft zeigen, weder Furcht noch Muth bethätigen, veränderten Umständen willen- und verständnißlos sich fügen und höchstens Naturtrieb untergeordneter Art erkennen lassen sollen. Unterstützt wird diese Annahme durch die Trägheit ihrer Lebensäußerungen und Lebensthätigkeiten, wie durch eine Lebenszähigkeit, von welcher man geradezu unglaubliche Dinge berichtet. Hunger und Durst, Luftmangel und anderweitige Entbehrungen, Verwundungen und Gifte ertragen die Faulthiere mit einer uns räthselhaft dünkenden Fühllosigkeit und scheinbar mit Gleichsmuth. Schomburgk hielt einen Aï, um ihn zu tödten, zwanzig Minuten lang unter Wasser, ohne seinen Zweck zu erreichen; er vergiftete andere Stücke mit dem furchtbare Urari, welches, in das Blut des größten Raubthieres gebracht, dieses binnen wenigen Secunden lähmt und unter Krämpfen verenden macht, und erfuhr, daß das vergiftete Faulthier erst nach Verlauf von einer Viertelstunde seinen letzten Athemzug aushauchte. „Wurde ein solches Thier,“ so berichtet derselbe, „das Ziel meiner Flinte, so veränderte es weder seine Stellung, noch stieß es einen Schmerzenslaut aus. Bei der einen Gelegenheit schoß ich viermal nach einem, welches kaum dreißig Fuß über mir an einem Aste klebte, ohne daß es herabgefallen wäre oder eine schmerzhafte Bewegung gezeigt hätte.“

Derartige Wahrnehmungen verleiten um so leichter zu falschen Schlußfolgerungen, je weniger sie durch Beobachtungen des wirklich wachen und thätigen Thieres berichtigt werden können. Die Schweigsamkeit der Faulthiere, ihre Anspuchslosigkeit betreffs der Nahrung, ihre geringe Theilnahme an dem Wohl und Wehe Anderer ihres Gleichen, das eigene an der Mutterbrust hängende Junge nicht ausgenommen, tragen ebenfalls das Ihrige zu der ungünstigen Beurtheilung der geistigen Kräfte bei, und so wird es erklärlich, daß man auch gefangenen Aïs oder Unaus von vornherein mit Vorurtheilen gegenübertrat und es kaum der Mühe werth hielt, sich längere Zeit eingehend mit ihnen zu beschäftigen. Und doch kann man nur hierdurch über sie und ihr Wesen ein einigermaßen richtiges Urtheil gewinnen.

Seitdem unsere Dampfschiffe unmittelbar mit den südamerikanischen Häfen verkehren, gelangen gefangene Faulthiere ziemlich regelmäßig zu uns. Sie widerlegen schon hierdurch die ebenfalls angestellte Behauptung, daß man sie nicht an ein Ersatzfutter gewöhnen und somit längere Zeit im Käfige halten könne. So wie einen eben seiner Freiheit beraubter Wiederkäuer oder Nager darf man sie freilich nicht behandeln, will man nicht Gefahr laufen, sie Hungers sterben zu sehen. Gewohnt, ihre Nahrung, Baumblätter und Früchte in hängender Stellung, über sich, wegzunehmen, gehen viele, ich glaube sogar die meisten Faulthiere, elendiglich zu Grunde, einfach deshalb, weil man ihnen Futterstoffe und Trinkwasser in Gefäßen auf den Boden der Versandkiste setzt, in der Erwartung, daß sie sich der Nahrungsstoffe bedienen werden, während sie, auch abgesehen von ihrer Unbekanntschaft mit den gewöhnlich gereichten Futterstoffen selbst, gar nicht daran denken, nach unten zu sehen und unter ihnen liegende Nahrung aufzunehmen. Giebt man sich dagegen die Mühe, sie wie kleine unmündige Kinder zu atzen, indem man ihnen die Nahrung vor das Maul hält, so fressen sie, sobald sie hungrig sind, gewöhnen sich allmählich an Ersatzstoffe mancherlei Art, Obst und andere Früchte, gekochten Reis, Eier, Milchbrod z. B., und lernen es auch in nicht allzu langer Zeit, von oben herab selbst zuzugreifen. Entsprechend ihren geringen Fähigkeiten macht ihre Zähmung nur langsame Fortschritte, aber doch solche, welche vorgefaßte Meinungen hinsichtlich ihrer Stumpfgeistigkeit auf das Bestimmteste widerlegen. Allmählich gewöhnen sie sich an Käfig und Wärter, machen sich im ersteren heimisch und schließen sich dem Letzteren mit ersichtlicher Zuneigung an, achten auf den Ruf, lassen sich ohne Abwehr oder Widerstreben ergreifen, von ihrem Sitze, beziehentlich von ihrer Hängestange loslösen, in den Schooß nehmen, atzen etc., gehen der Wärme nach, entäußern sich ihrer Gewohnheiten, indem sie sich beispielsweise in erwärmtes Heu oder Stroh verkriechen, und bekunden auch sonst noch entschieden Verständniß für die veränderten Umstände, unter denen sie zu leben gezwungen sind.

Der beobachtungseifrige Naturforscher, in dessen Besitz und Pflege ein gefangenes Faulthier gelangt, kann sich tage- und wochenlang mit ihm beschäftigen, bevor er seine wesentlichsten Eigenthümlichkeiten kennen gelernt hat. An einer Querstange der Versandkiste hängt der schlafende Aï in der oben beschriebenen Stellung, ohne von seinem Kopfe das Geringste sehen zu lassen, das stummelhafte Schwänzchen gerade ausgestreckt, das in verkehrter Richtung gestrichene Haar etwas gesträubt. Gelindes Schütteln mit der herausgehobenen Stange stört seinen Schlummer nicht; denn jeder Windhauch versetzt das freilebende Thier in ein ähnliches Schaukeln. Endlich aber, vielleicht in Folge der ihm zum Bewußtsein gelangenden Stimmlaute seiner bewundernden Beschauer, erwacht es doch, und hervor streckt sich ein auf langem, schmächtigem Halse sitzender, mäßig großer Kopf „mit rundem Eulenangesicht“ und unendlich gutmüthigem Ausdrucke des recht hübsch gezeichneten Antlitzes. Noch liegt die Mittellinie des Scheitels in derselben Richtung wie das Rückgrat, also nach unten; plötzlich aber führt der Aï eine Drehung aus, wie kein zweites Säugethier, auch nicht der Unau und seine Verwandten, es vermag: er dreht den Kopf um volle hundertachtzig Grade, von rechts oder links beginnend, sodaß die Scheitellinie mit dem Brustbeine in eine Richtung zu liegen kommt. Dies geschieht mit derselben Leichtigkeit, mit welcher man eine Hand umwendet, und wirkt so überraschend, daß man sich an den auffallenden Anblick gewöhnen muß, bevor man ihn verstehen lernt. Ungeübte Beobachter gelangen ist der Regel erst, wenn sie darauf aufmerksam gemacht worden sind, zum Bewußtsein des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_385.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)