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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

erhalten, oder sich bereits bestehenden Züchtervereinen anzuschließen. Auch bin ich überzeugt, daß die Redaction der „Blätter für Kaninchenzucht“ jederzeit in der Lage und bereit ist, geeignete billige und reelle Bezugsquellen anzugeben. Schließlich sei erwähnt, daß, wenn man französische Kaninchenracen zu uns verpflanzen will, der Lapin de garenne und der Lapin ordinaire, in zweiter Linie der sogenannte Leporide, der Vorzug verdienen. Das Widderkanin scheint nicht für unser Klima geeignet zu sein; die Nachzucht von demselben ist fast immer bei uns nur gering, die Kränklichkeit und Sterblichkeit der in Deutschland aufgezogenen jungen Lapin béliers aber stets eine große; Degenerationen dieser Thiere – namentlich nach der dritten bei uns gezüchteten Generation – sollen ungemein häufig sein; es bedürfen diese Thiere ganz besonders viel Pflege und gutes Futter; die Ausgabe für das erste Zuchtmaterial ist dabei keine geringe. Bei den in Deutschland weitergezogenen Leporiden kommt es häufig vor, daß sie nicht treu ihre Farbe vererben; schwarz oder gelb gefärbte Junge sind keine Seltenheit. – Es ist aber auch meine feste Ueberzeugung, daß, so gut es die Franzosen vermochten, den Lapin ordinaire in’s Leben zu rufen, wir aus dem in Deutschland heimischen gewöhnlichen Kaninchen durch sorgfältige Auswahl, Pflege und Ernährung einen Kaninchenschlag heranbilden können, der allen billigen Anforderungen entspricht und dessen Glieder sich nicht – wie die aus dem Auslande importirten Thiere – an neue Existenzbedingungen anzupassen und den Kampf mit denselben aufzunehmen haben.

Bei dem verhältnißmäßig hohen Preise, welchen die weißen Felle haben (siehe oben unter Lissa-Kanin) dürfte der Zucht weißer Kaninchen vielleicht etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken sein.

In vielen Gegenden Deutschlands hat man, wie erwähnt, noch ein ganz unmotivirtes Vorurtheil gegen den Genuß des allerdings etwas süßlich schmeckenden Kaninchenfleisches. Daß durch geeignete Zubereitung letzteres recht schmackhaft werden kann, ist erwiesene Thatsache; vortreffliche Anweisung, Kaninchenfleisch auch für verwöhnte Gaumen genießbar zu machen, giebt die Broschüre: „Receptbuch für Kaninchen- (Lapin-) Fleischbereitung“, welche im Verlag von Ch. Stahl in Neu-Ulm erschienen ist.




Aus deutschen Gerichtssälen.


Nr. 5. Des Meineids angeklagt.


Während der letzten Schwurgerichtssession in L. in der Provinz S. beanspruchte eine Anklage auf Meineid ungewöhnliches Interesse. Sie richtete sich gegen ein junges Mädchen, das jahrelang die Stelle als Erzieherin in einem vornehmen Hause bekleidet hatte und über seine Führung und Fähigkeiten die glänzendsten Zeugnisse beibringen konnte. In einem gewöhnlichen Civilstreite war sie als Zeugin vorgeschlagen worden und hatte die übliche Generalfrage nach einer etwaigen Vorbestrafung verneinend beantwortet. Später wurde durch Zufall entdeckt, daß sie vor Jahren eines Diebstahls wegen mit vier Wochen Gefängniß bestraft worden, und die Anklage auf Meineid erhoben, da sich der geleistete Zeugeneid auch auf die allgemeinen Fragen erstreckt. Weniger diese falsche Aussage als der Diebstahl, von einem Mädchen begangen, welches sich, wie das Gerücht ging, durch Schönheit und Bildung auszeichnete, lockte eine zahlreiche Zuhörerschaft in den Gerichtssaal. Ich sah mich durch ein unerwartetes Hinderniß aufgehalten, so daß ich erst gegen Ende der Verhandlung zur Stelle war.

Der Vertheidiger hatte sich zur Schlußrede erhoben. Er war ein würdiger, alter Herr, gewöhnlich etwas steif, seine Stimme gemessen; heute zitterte sie wie in verhaltener Bewegung.

„Meine Herren Geschworenen,“ so begann er, „ich habe unzählige Male als Anwalt hier gestanden, aber nie mit so schwerem Herzen wie heute. Nie bin ich fester von der Unschuld meiner Schutzbefohlenen überzeugt gewesen, nie aber auch von der Schwierigkeit, ja ich muß sagen von der Unwahrscheinlichkeit einen günstigen Spruch zu erlangen.

Die Angeklagte ist Waise; der Tod ihrer Eltern hat sie früh genöthigt, bei fremden Menschen Unterhalt zu suchen; eine reiche Bildung befähigte sie zu der Stellung einer Erzieherin. Zwei Jahre hat sie in demselben Hause gewirkt, stets thätig, einfach in ihrem Auftreten und bescheiden in ihren Ansprüchen, ohne daß sich der Schatten eines Verdachtes gegen ihre Redlichkeit erhoben, da auf einmal wird sie des Diebstahls beschuldigt und überführt. Sie hat mir versichert, daß sie unschuldig verurtheilt worden. Ich stehe fünfzig Jahre im Justizdienste; eine lange Erfahrung hat mich gegen Thränen und schöne Worte stumpf gemacht; hier, meine Herren, flossen keine Thränen. Die Worte waren einfach, aber sie überzeugten mich. Die Angeklagte hat den Diebstahl nicht begangen, und sie konnte mit gutem Gewissen die Frage nach ihrer Vorbestrafung mit Nein beantworten, denn sie hat nach ihrer Auffassung keine Strafe erlitten, sondern ein bitteres Unrecht.

Freilich verhehle ich mir nicht, daß diese meine Ansicht kaum in’s Gewicht fallen kann; denn Sie haben ein zu Recht bestehendes Urtheil vor sich. Die Vertheidigung muß, so schwer ihr dies wird, sich auf den Boden der Thatsachen stellen, sie muß das objective Vorhandensein des Meineides zugeben. Aber ich bitte Sie, meine Herren, sich in die Seele der Angeklagten zu versetzen. Wieder hatte sie in einer neuen Stellung, wo man nichts von der früher verbüßten Strafe wußte, mehrere Jahre mit ähnlichem Erfolge und unter allseitiger Anerkennung gewirkt, da sollte sie um einer Sache willen, die ihr völlig fremd war, vor ihren Bekannten, vor ihrer Principalität die dunkle Vergangenheit an’s Licht ziehen, sich selbst das Brandmal aufdrücken und sich damit aus einer sicheren Existenz hinausstoßen in die öde Fremde. Werden Sie es unbegreiflich finden, wenn die Lippen des jungen Mädchens sich auf die Frage: ‚Sind Sie bestraft?‘ nicht öffnen wollten, wenn die furchtbare Seelenqual ihnen endlich ein Nein erpreßte? Werden Sie nicht glauben, daß ein solcher Moment die Sinne berücken, die Vernunft trüben kann?

Die Ungewöhnlichkeit des Falles mag es entschuldigen, wenn ich zu einem Mittel greife, welches ich sonst zurückweise und zurückweisen muß. Ich mache Sie auf die hohe Strafe aufmerksam, welche Ihr Schuldig für die Angeklagte zur Folge haben wird. Ein junges Mädchen, welches sich ein Mal im Leben – und nach meinem festen Glauben auch das nicht – einen Fehltritt hat zu Schulden kommen lassen, welches diesen Fehltritt durch lange Jahre tadelfreien Verhaltens gesühnt hat, soll mit dem Auswurfe des Menschengeschlechts zusammengebracht werden? Nein, nimmermehr! Bisher war ihre Seele rein, wie ein heller Spiegel – nach der Rückkehr aus dem Zuchthause, wird sie das Gift des Lasters eingesogen haben.

Ich weiß nichts mehr zu sagen; ich bitte um den Spruch auf Nichtschuldig.“

In tiefem Schweigen waren die Anwesenden der Rede des Vertheidigers gefolgt. Sie war kurz, aber um so wirkungsvoller; Aller Antlitz zeigte Ergriffenheit; die Frauen weinten. Auch mich überkam das Gefühl mächtiger Rührung, aber es theilte sich mit einem andern. Ich sah auf das angeschuldigte Mädchen; eben reichte sie mit einem dankenden Blicke ihrem Anwalte die Hand. Wo hatte ich dieses schöne, bleiche Gesicht mit dem dunklen Haar und den tiefen Augen schon früher erblickt? Es war mir, als hätte jener Mund in einer Stunde sonnigen Glückes für mich eine Geschichte schweren Leidens erzählt. Ich preßte die Hand gegen die Stirn, um die unstäten Gedanken zu sammeln, die schlummernde Erinnerung wach zu rufen. Umsonst.

Der Vorsitzende begann die übliche Zusammenstellung. Sein Vortrag verrieth menschliches Empfinden, aber er zeigte auch die Thatsache in ihrem klaren Lichte, in ihrem für die Angeklagte erdrückenden Gewicht; das Hervorheben der günstigen Umstände legte eben blos seine Theilnahme an den Tag. Er wies auf der Angeklagtem freudlose Kindheit, auf ihren so lange reinen Lebenswandel hin.

„Drei Jahre,“ sprach er, „hat sie nach jenem Vergehen unbescholten gelebt, denn der Diebstahl wurde am 5. April 1871 verübt.“

Bei diesem Worte ging es wie ein Blitz durch meine Seele.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_450.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)