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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

„Herr Capitain –“ Der Rednergeist des Matrosen schien doch nicht hinreichend entwickelt zu sein, denn über diese beiden Worte kam er vorläufig nicht hinaus, und anstatt fortzufahren, blickte er so beharrlich und angestrengt auf den Fußboden nieder, als wolle er die Mosaiksteine desselben zählen.

„Höre, Jonas, Du bist mir verdächtig,“ sagte Hugo nachdrücklich, „sehr verdächtig schon seit länger als acht Tagen. Du brummst nicht mehr; Du wirfst der Padrona und ihren Mägden nicht mehr wüthende Blicke zu; Du legst bisweilen Dein Gesicht in Falten, die man mit einiger Phantasie für den ersten schwachen Versuch eines Lächelns halten könnte – ich wiederhole Dir, daß das höchst bedenkliche Symptome sind, und daß ich mich auf Schreckliches gefaßt mache.“

Jonas schien gleichfalls einzusehen, daß er sich etwas klarer äußern müsse. Er nahm einen energischen Anlauf dazu und brachte wirklich einen halben Satz zu Stande. „Herr Capitain, es giebt Menschen –“

„Eine ganz unbestreitbare Thatsache, die ich nicht entfernt anzugreifen beabsichtige. Also ‚es giebt Menschen –‘ nun weiter.“

„Die die Frauenzimmer leiden mögen,“ fuhr Jonas fort.

„Und andere, die sie nicht leiden mögen,“ ergänzte der Capitain, als eine zweite Pause eintrat. „Gleichfalls ein unleugbares Factum, zu dem Capitain Hugo Almbach und Matrose Wilhelm Jonas von der Ellida die redenden Beispiele liefern.“

„Das wollte ich eigentlich nicht sagen,“ versetzte der Matrose, den diese eigenmächtige Fortsetzung seiner augenscheinlich einstudirten Rede ganz aus dem Concepte brachte. „Ich meinte nur, es giebt Menschen, die sich den Frauenzimmern gegenüber wer weiß wie schlimm anstellen, und es doch im Grunde gar nicht sind, weil sie sich nichts aus ihnen machen.“

„Ich glaube, das läuft auf eine höchst schmeichelhafte Illustration meiner eigenen Persönlichkeit hinaus,“ bemerkte Hugo. „Jetzt aber sage mir um Gotteswillen, was bezweckst Du eigentlich mit all diesen Vorreden?“

Jonas holte einige Male tief Athem; die nächsten Worte schienen ihm entsetzlich schwer zu werden. Endlich sagte er stockend:

„Herr Capitain, ich weiß ja doch am besten, wie Sie eigentlich sind, und – und – ich kenne ein junges Frauenzimmer.“

Um die Lippen des Capitains zuckte es wie mühsam unterdrücktes Lachen, aber er zwang sich, ernsthaft zu bleiben.

„Wirklich!“ sagte er kaltblütig. „Das ist bei Dir allerdings ein höchst merkwürdiges Ereigniß.“

„Und ich bringe sie Ihnen,“ fuhr Jonas fort.

Jetzt begann der Capitain überlaut zu lachen. „Jonas, ich glaube, Du bist nicht gescheit. Was zum Kukuk soll ich denn mit diesem jungen Frauenzimmer anfangen? Soll ich sie heirathen?“

„Sie sollen gar nichts mit ihr anfangen,“ erklärte der Matrose mit gekränkter Miene, „Sie sollen sie blos ansehen.“

„Ein sehr bescheidenes Vergnügen,“ spottete Hugo. „Wer ist denn eigentlich die betreffende Donna, und welche Nothwendigkeit bedingt dieses ‚Ansehen‘ meinerseits?“

„Es ist die kleine Annunziata, das Kammermädchen der Signora Biancona,“ berichtete Jonas, der jetzt endlich etwas in Redefluß kam. „Ein armes blutjunges Ding, ohne Vater und Mutter. Sie ist erst seit ein paar Monaten bei der Signora, und es ging ihr so soweit auch gut, aber da ist ein Mensch,“ der Matrose ballte im vollen Ingrimme die Fäuste, „Gianelli heißt er und ist Capellmeister; der geht dem armen kleinen Dinge auf Schritt und Tritt nach und läßt sie nicht in Ruhe. Sie hat ihn einmal derb abgefertigt, und dafür hat er sie bei der Signora verklatscht, und Signora ist seit der Zeit so unfreundlich und heftig zu ihr, daß sie es nicht mehr aushalten kann. In dem Hause sieht sie überhaupt nicht viel Gutes, und deshalb soll sie fort und muß sie fort, und ich leide es nicht, daß sie länger da bleibt.“

„Du scheinst ja über diese kleine Annunziata sehr genau unterrichtet zu sein,“ bemerkte Hugo trocken. „Sie ist doch Italienerin; hast Du all diese Details auf pantomimischem Wege erfahren?“

„Der Diener der Signora hat uns dann und wann ausgeholfen, wenn wir gar nicht fertig werden konnten,“ gestand Jonas ganz treuherzig. „Aber der spricht ein schauderhaftes Deutsch, und ich mag es auch nicht, daß er seine Nase in Alles steckt. Sie soll ohnedies fort von der ganzen Sippschaft; sie muß absolut in ein deutsches Haus.“

„Wegen der Moral,“ ergänzte Hugo.

„Ja, und dann auch wegen des Deutschlernens. Sie spricht ja kein einziges Wort Deutsch, und es ist ein wahrer Jammer, wenn man sich so gar nicht versteht. Da habe ich denn gedacht. – Sie gehen ja so oft zu dem Consul Erlau, Herr Capitain; die junge Frau Erlau könnte vielleicht ein Kammermädchen gebrauchen, und in solch einem reichen Haushalte kommt es ja gar nicht auf eine Person mehr oder weniger an –, wenn Sie ein gutes Wort für die Annunziata einlegten –“ er stockte und blickte seinen Herrn bittend an.

„Ich werde mit der Dame sprechen,“ sagte der Capitain, „und jedenfalls ist es besser, Du stellst Deinen Schützling erst dort vor, sobald ich eine bestimmte Zusage habe; ich werde ihn mir dann gleichfalls ansehen. Aber noch Eines, Jonas –“ er nahm eine feierliche Miene an – „ich setze voraus, daß Dich bei der ganzen Sache nichts weiter leitet, als nur das Mitleid mit dem armen verfolgten Kinde.“

„Nur das reine Mitleid, Herr Capitain,“ versicherte der Matrose mit einer so treuherzigen Offenheit, daß Hugo sich auf die Lippen biß, um nicht in ein erneutes Gelächter auszubrechen.

„Ich glaube wahrhaftig, er ist im Stande, sich das selbst einzubilden,“ murmelte er und setzte dann laut hinzu: „Es ist mir lieb, das zu hören. Ich war im Voraus überzeugt davon, denn nicht wahr, Jonas, wir heirathen nie?“

„Nein, Herr Capitain,“ antwortete der Matrose, aber die Antwort kam etwas kleinlaut heraus.

„Weil wir uns aus den Frauenzimmern gar nichts machen,“ fuhr Hugo mit unerschütterlichem Ernste fort. „Denn weiter als bis zum Mitleide und zur Dankbarkeit geht die Geschichte doch nie, dann segeln wir davon, und sie haben das Nachsehen.“

Diesmal gab der Matrose gar keine Antwort, aber er blickte seinen Herrn äußerst betroffen an.

„Und es ist auch ein wahres Glück, daß es so ist,“ schloß der Capitain mit vollem Nachdrucke. „Frauenzimmer auf unserer ‚Ellida‘! Gott bewahre uns davor!“

Damit ließ er ihn stehen und ging aus dem Zimmer. Jonas schaute ihm mit einer Miene nach, von der sich schwer entscheiden ließ, ob sie mehr verdutzt oder mehr trübselig war, endlich aber schien die letztere Empfindung vorzuherrschen, denn er ließ den Kopf hängen und stieß einen Seufzer aus, als er halblaut sagte:

„Ja freilich, sie ist auch ein Frauenzimmer – leider Gottes!“ –

Hugo war hinübergegangen in das Arbeitszimmer seines Bruders, den er allein fand. Der Flügel stand offen, Reinhold selbst aber lag auf dem Ruhebette ausgestreckt, den Kopf tief in die Kissen zurückgeworfen. Das Antlitz mit den halbgeschlossenen Augen und die hohe Stirn mit den dunkeln Haaren, die darüber hinfielen, sahen erschreckend bleich aus. Es war eine Stellung, nicht der Ruhe, sondern der grenzenlosesten Ermüdung und Erschöpfung, und er veränderte sie kaum beim Erscheinen seines Bruders.

„Reinhold, das ist doch wirklich unverantwortlich von Dir,“ sagte dieser herantretend. „Die halbe Stadt hast Du in Aufruhr gebracht mit Deiner Oper; im Theater geht es drunter und drüber; im Publicum kämpft man förmlich um die Billets. Eccellenza der Intendant weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, und Donna Beatrice ist in einer geradezu nervösen Aufregung. Und Du, der eigentliche Anstifter all dieses Unheils, träumst hier im dolce far niente, als ob es weder Oper noch Publicum noch sonst etwas auf der Welt gäbe.“

Reinhold wandte mit einer matten, gleichgültigen Bewegung den Kopf nach dem Eintretenden; man sah es seinem Gesichte an, daß sein Träumen eher alles Andere, nur nicht süß gewesen war.

„Du warst in der Probe?“ fragte er. „Hast Du Cesario gesehen?“

„Den Marchese? Allerdings, obgleich er so wenig in der Probe war wie ich. Er zog es diesmal vor, selbst eine Vorstellung in der höheren Reitkunst zu geben; ich habe seiner Bravour die höchste Bewunderung gezollt.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_557.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)