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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)


No. 36.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Im Opernhause donnerte der Beifallssturm, und der Vorhang hatte sich noch nicht einmal gehoben. Es galt der Ouverture, deren letzte Töne soeben verhallten. Das Theater war überfüllt in all’ seinen Plätzen mit alleiniger Ausnahme einer der kleinen Prosceniumslogen zunächst der Bühne; dort befand sich nur ein einziger älterer Herr, vermuthlich irgend ein reicher Sonderling, dem es Vergnügen machte, den Alleinbesitz einer Loge an solchem Abende mit Gold aufzuwiegen, denn anders würde er schwerlich dazu gelangt sein. Im Uebrigen boten die blendend erhellten Räume und die Logenreihen mit ihrem reichen Damenflore ein glänzendes und vielgestaltiges Bild dar. Die Künstlerwelt wie die Aristokratie war vollständig vertreten. Alles, was die Stadt nur an Schönheiten, Berühmtheiten und Personen von Stand aufzuweisen hatte, war erschienen, um dem gefeierten Lieblinge der Gesellschaft einen erneuten Triumph zu bereiten, denn nur um einen solchen handelte es sich. Hier gab kein junger Künstler zaghaft sein Werk dem Beifalle oder dem Mißfallen des Publicums preis; eine anerkannte und unbestrittene Größe im Reiche der Musik trat mit einer neuen Offenbarung ihres Talents vor die Welt hin, um damit einen neuen Sieg zu erringen. Diese Gewißheit lag sehr deutlich, wenn auch in ziemlich mißgünstiger Form, auf dem Gesichte des Maestro Gianelli ausgeprägt, der das Orchester leitete. Gleichwohl wagte er nicht, es an Eifer oder Aufmerksamkeit fehlen zu lassen. Er wußte zu gut, daß, wenn er versuchte, hier, wo doch immerhin ein Theil des Gelingens in seine Hand gelegt war, gegen den allmächtigen Rinaldo zu intriguiren, dies ihn seine Stellung, vielleicht seine ganze Zukunft kosten konnte, denn die Ungnade des Publicums war ihm in diesem Falle gewiß. So that er denn im vollsten Maße seine Schuldigkeit, und die Ouverture ging in vorzüglicher Ausführung zu Ende.

Der Vorhang rauschte auf, und man huldigte bereits im Voraus dem Componisten durch ein erwartungsvolles Stillschweigen. Noch war der erste Act nicht zur Hälfte vorüber – und es war nicht Einer unter den Zuhörern, der Rinaldo nicht bereits die Tyrannei verziehen, mit der dieser über alle ihm zu Gebote stehenden Mittel verfügt und rücksichtslos seinen Ansichten Geltung verschafft hatte. Die Darstellung war eine in jeder Hinsicht vollendete, die Scenirung eine meisterhafte. Man fühlte es, daß eine andere Hand als die des gewöhnlichen Regisseurs hier gewaltet und den bloßen Theatereffect überall zu künstlerischer Schönheit veredelt hatte; aber all’ diese äußerlichen Vorzüge verschwanden vor der Gewalt, mit der das Werk an sich zu fesseln wußte.

Es war vielleicht das Vollendetste, was Rinaldo in der ihm nun einmal eigenthümlichen Richtung je geschaffen hatte, einer Richtung, die von so Vielen bewundert und vergöttert und von so Manchem beklagt ward. Jedenfalls hatte er diesmal das Höchste geleistet auf jener Bahn, auf die ihn der Einfluß Beatricens gerissen; ob es das Höchste war, was er überhaupt leisten konnte – diese Frage ging vorläufig noch unter in dem jubelnden Beifalle, mit dem das Publicum diese neue Schöpfung seines Lieblings begrüßte. War es doch auch hier wieder Rinaldo mit dem ganzen Feuergeiste seines Genies, von dem man nie recht wußte, ob es droben auf der Höhe des Ideals oder drunten in der Tiefe der Leidenschaft heimisch war, und der wieder alle Empfindungen des Menschenherzens aufwühlte, die zwischen diesen beiden Polen lagen.

Der Sturm brauste über die nordischen Haiden hin, und die Brandung donnerte gegen die Küste. Wie die Nebel an den Uferhöhen hinziehen, so wogten und wallten die Töne chaotisch durcheinander, bis endlich aus ihnen eine traumhaft schöne Melodie emportauchte. Aber sie schwebte nur wie ein flüchtiges Nebelbild über dem Ganzen, nie vollendet, nie klar und voll austönend, und bald genug ging sie unter in anderen Klängen, die, nicht so rein und süß wie jene, doch mit fremdartig seltsamem Reize zu fesseln wußten. Die Nebel zerrissen, und aus ihnen hervor trat die dämonisch schöne Gestalt, welche die Hauptträgerin und der Mittelpunkt der ganzen Oper war. Ein lauter Beifall begrüßte das Erscheinen Signora Biancona’s auf der Bühne. Beatrice zeigte es heute, daß sie noch schön zu sein verstand, so schön, wie nur jemals im Beginne ihrer Laufbahn. Was die Kunst vielleicht dazu gethan hatte, kam ja hier nicht in Betracht, genug, die Erscheinung, die jetzt vor dem Publicum stand, war vollendet in jeder Hinsicht. Das halb phantastische, halb classische Costüm zeigte die Gestalt in ihrem ganzen Reize; die dunkeln Locken wallten gelöst über die Schultern, und die Augen brannten in der alten verzehrenden Gluth. Und jetzt erhob sich diese Stimme, welche die Bewunderung fast ganz Europas gewesen war, voll und mächtig, den weiten Raum erfüllend – die Sängerin stand noch im Zenith ihrer Schönheit und ihrer künstlerischen Kraft.

Glühender, feuriger rauschten die Melodien auf, und vor dem Publicum entrollte sich ein Tongemälde, das seine Farben

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_571.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)