Seite:Die Gartenlaube (1874) 619.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)


No. 39.   1874.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Gesprengte Fesseln.
Nachdruck verboten und
Uebersetzungsrecht vorbehalten.
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Die leidenschaftliche Frau handelte in der That nicht nach Plan und Berechnung, als sie zu diesem letzten, äußersten Mittel griff, um ihre Rache zu kühlen. Ihr Erscheinen in dem Garten Erlau’s galt einzig der gehaßten Gegnerin. Sie fand Ella nicht, aber statt dessen fand sie den Knaben, allein, unbeaufsichtigt, und die Idee wie die Ausführung des Raubes waren das Werk eines Augenblickes. Das Kind folgte anfangs willig der schönen fremden Dame, die es schmeichelnd an sich zog, und als es ängstlich zu werden begann und nach seiner Mutter zurückverlangte, da war es bereits zu spät. Beatrice dachte gar nicht an die möglichen Folgen ihres Schrittes, als sie triumphirend ihre Beute entführte; sie fühlte nur, daß kein Dolchstoß das Herz Ella’s so tief und sicher treffen konnte als der Verlust ihres Kindes, und daß dieser Verlust eine ewig trennende Scheidewand zwischen den beiden Gatten aufrichtete. Das war es, was sie gewollt hatte. Jetzt aber galt es, sich den Raub zu sichern. Gianelli mußte zu der rasch in’s Werk gesetzten Flucht die Hand bieten.

Nun lag bereits mehr als eine Tagereise zwischen dem Kinde und seinen Eltern. Aber einmal mußte doch Halt gemacht werden, einmal mußte diese plan- und ziellose Flucht doch ein Ende nehmen. Die Rache war gelungen, weit über Erwarten – was nun?

Der kleine Reinhold schlief noch immer. Hätte er wenigstens die Züge seines Vaters getragen! Vielleicht hätte ihn das vor allem Bösen bewahrt, aber dieses goldblonde Haar, dieses rosige Antlitz und diese tiefblauen, im Augenblicke freilich geschlossenen Augen gehörten ja der Mutter an, der Frau, die Beatrice haßte, wie sie noch nie etwas auf der Welt gehaßt hatte, und diese Aehnlichkeit war eine furchtbare Gefahr für das schlummernde Kind. Die glühenden Augen seiner Begleiterin hafteten minutenlang starr auf seinem Gesichte, dann auf einmal zuckte sie zusammen, und wie vor ihren eigenen Gedanken erschreckend, riß sie das Auge los von dem Knaben und wandte sich ab.

Da erblickte sie oben auf der Höhe den Wagen, der dem ihrigen folgte. Ein Reisewagen war überhaupt eine Seltenheit auf diesem Wege, und er kam in der gleichen Richtung, kam in vollster Eile. Beatrice errieth sofort, um was es sich handelte. Also ihre Spur war bereits verrathen, und die Verfolger waren ihr auf den Fersen – mochten sie doch! Sie fühlte sich allmächtig, so lange sie das Kind in ihren Händen hatte.

Sich rasch erhebend, gab sie dem Kutscher Befehl, die Pferde zur größten Eile anzutreiben. Er gehorchte, und nun begann eine wilde Jagd zwischen den beiden Wagen. Mehr als einmal vermochten die kräftigen Thiere sie kaum zu halten, mehr als einmal drohte der Hemmschuh zu reißen und die Insassen dem Sturze preiszugeben. Keiner von ihnen achtete darauf, und das Versprechen eines überreichen Lohnes spornte auch die beiden Führer zur Verachtung der Gefahr an. Es war eine rasende, eine tollkühne Fahrt. Felsen und Schluchten schienen zu beiden Seiten vorüberzufliegen; immer höher stieg die Bergwand empor, je mehr sich die Straße senkte; immer näher brauste der Fluß herauf, doch das Viergespann war unleugbar im Vortheile. Die Wagen rollten jetzt beide im Thale dahin, aber der Raum zwischen ihnen wurde mit jeder Minute kleiner – noch einige hundert Schritte, und die Flüchtigen waren eingeholt.

Das erste Gefährt donnerte über die Brücke, die hier die beiden Ufer verband. Jenseit derselben hielt es auf einmal still. Beatrice hatte selbst den Befehl dazu gegeben; sie sah, daß hier kein Ausweichen, kein Entrinnen möglich war, daß sie auf das Aeußerste gefaßt sein mußte. Der Wagen hielt unmittelbar am Rande des Flusses, der reißend schnell dahinschoß; langsam öffnete Beatrice den Schlag, während sie mit der Linken den kleinen Reinhold umfaßte, der von der rasenden Fahrt erwacht war und jetzt ängstlich in die schäumenden, tosenden Wellen blickte, die dicht unter ihm dahinschossen. Er wußte ja nicht, wie nahe ihm die Eltern waren. Jetzt hatte auch der zweite Wagen die Brücke erreicht, und in dem Momente, wo Ella ihr Kind erblickte, war es vorbei mit Besinnung und Ueberlegung. Sie vergaß Reinhold’s Warnung, sich nicht zu zeigen, ihm den entscheidenden Schritt allein zu überlassen, und beugte sich weit aus dem Schlage.

„Reinhold!“ hallte es hinüber – es war ein Ruf unaussprechlicher, bebender Angst, Das Kind schrie auf, als es die Mutter erkannte, und streckte beide Arme nach ihr aus. Laut aufweinend wollte es hinüber zu ihr, aber dieses Wiedersehen wurde sein Verderben. Beatrice war leichenblaß geworden, als sie die Gatten nebeneinander erblickte. Also beisammen! Was sie trennen sollte, das gerade hatte sie vereinigt, und wenn Reinhold in der nächste Minute die Flüchtige erreichte und ihr seinen Sohn entriß, dann waren die Beiden vereinigt für immer, und der Verlassenen blieb nur die Verachtung – oder die Rache.

Aber die Wahl war bereits getroffen. Eine einzige blitzschnelle Bewegung nach dem Strome hin entschied Alles. Beatrice hatte das Kind nicht losgelassen, und mit der Kraft der Verzweiflung riß sie es mit sich hinunter in den Fluthentod. –

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_619.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)