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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

der Resultate unserer Expedition auferlegt, machten es mir unmöglich, Ihnen früher zu schreiben.

Wie Sie wissen, wurde unsere Hoffnung, im zweiten Jahre von der Polarisbucht aus den Pol zu erreichen, mit einem Schlage vernichtet. Da wir zu unserer ersten Ueberwinterung keinen Hafen finden konnten, das Schiff aber um jeden Preis untergebracht werden mußte, gingen wir unter 81° 38′ n. Br. hinter einem großen Eisberge vor Anker, welcher, etwa eine viertel Seemeile von der Küste entfernt, auf Strand saß. Durch die fortwährende Bewegung des Eises wurde unser Fahrzeug schließlich derart beschädigt, daß es den größten Theil seines Vorderstevens verlor, und als der Hochsommer und damit die eigentliche Jahreszeit zum Vordringen herangekommen war, hatten wir ein leckes, seeuntüchtiges Schiff, dessen Zustand zu schleuniger Umkehr mahnte. Als wir demnach am Nachmittage des 12. August 1872 gegen Süden hin mehrere Meilen offenen Fahrwassers sahen, lichteten wir die Anker und dampften der Heimath zu. Aber nur zu bald gelangten wir zu einer Eisbarrière, die weder durchbrochen noch umgangen werden konnte, da dieselbe zu dicht war und sich, so weit sich ermitteln ließ, von einem Ufer des Kennedeycanals nach dem andern erstreckte. Während der nächsten drei Tage hatten wir abwechselnd, je nachdem sich die Richtung des Fluthstroms änderte, bald etwas freies Wasser, das uns kurze Strecken vorzudringen erlaubte, bald sahen wir uns von allen Seiten von Treibeis umgeben, sodaß wir bis zum Fünfzehnten nicht mehr als sechsundneunzig Seemeilen zurückgelegt hatten.

An genanntem Tage wurden wir unter 80° 2′ n. Br. von dichten Packeismassen besetzt, um nicht wieder frei zu werden, bis der definitive Verlust des Schiffes erfolgte. Langsam und ununterbrochen trieben wir den Smithsund herab, zwischen aufreibenden Zweifeln urd froher Hoffnung schwebend. Die Bedenklichkeit unserer Lage war Jedermann an Bord des kleinen Fahrzeugs klar, aber trotzdem hofften wir zuweilen noch, frei zu werden, unserem Eisgefängnisse zu entrinnen und nach der Heimath, nach den dänischen Niederlassungen Grönlands oder überhaupt nach irgend einem sichern Ankerplatze gelangen zu können.

Von phantastisch geformten, hoch aufgeworfenen Eismassen umschlossen, bewegte sich die „Polaris“ mit einer mittleren Geschwindigkeit von einhalb bis fünf Meilen per vierundzwanzig Stunden gegen Süden, und Tag und Nacht mußte mit den Pumpen gearbeitet werden, um das Fahrzeug lenz zu halten. Unser unfreiwilliger Weg folgte in seinen einzelnen Krümmungen beinahe vollständig der wildzerklüfteten Küste Grinnell-Lands, die, nur wenige Seemeilen entfernt, einen wunderbar schönen, malerisches Anblick darbot. Während das gegenüberliegende Ufer Grönlands mehr oder weniger Plateaucharakter trägt, sehen wir dort schneeige Spitzen, schroffe Hörner und steile, kühn in die See ragende Vorgebirge, welche Schutz versprechende Buchten flankiren. Allein so gern wir es auch gethan hätten, so waren wir doch nicht im Stande, einen dieser Häfen zu erreichen. Eine dichte Packeismasse von sechs bis acht Seemeilen Breite trennte uns von der Küste, deren blau-violette Felsschroffen von dunkelm Landwasser bespült waren, welches in den Strahlen der tiefstehenden Sonne wie ein Spiegel glänzte. Wir litten wahre Tantalusqualen. Hier lag das Wasser vor uns, aber es blieb uns unerreichbar.

Willenlos mußten wir der Strömung und der See folgen, welche uns Ende August mehr nach Osten, gegen Grönlands Westküste trieben, der wir am 2. October so nahe kamen, daß wir von Deck aus, ohne Fernrohr, jede einzelne Schlucht, jeden Schneezug des Landes in voller Deutlichkeit zu erkennen vermochten. Da wir uns keinen Augenblick in Sicherheit wähnen konnten und beständig darauf gefaßt sein mußen, das Schiff zu verlieren, hatten wir auf dem Eisfelde, an welchem wir festlagen, ein Zelt aus Bootmasten und altem Segeltuche errichtet, in welchem wir im Falle der Noth Unterkommen zu finden hofften. Nachdem wir am 9. October Rensselaer-Hafen passirt hatten, an welchen sich, als Kane’s Winterquartier, historische Bedeutung knüpft, fingen wir an, schneller zu treiben und uns der grönländischen Küste bis auf fünf Meilen zu nähern. Beinahe an derselben Stelle wie das Jahr zuvor passirten wir Cap Isabella und Cap Alexander und waren somit dem gefürchteten Eise des Smith-Sundes entronnen. Die Stimmung an Bord war eine frohe, denn wir konnten jetzt ziemlich sicher sein, das sogenannte Nordwasser der Walfischfänger zu erreichen und vielleicht einen der grönländischen Hafen anlaufen zu können.

Allein wir jubelten zu früh. Gerade als wir uns am sichersten glaubten, brach die Katastrophe über uns herein.

Während wir bisher beinahe beständig Windstillen oder nur leichte Brisen aus verschiedenen Compaßrichtungen hatten, begann es am Nachmittage des 15. October steif aus Südwest zu wehen, so daß wir statt nach Süden nordöstlich trieben. Gegen sechs Uhr des Abends – Einzelne saßen vergnügt in der Cajüte bei eine Partie Whist – wurde plötzlich Meldung gemacht, das Eis am Hintertheile des Schiffes sei im Auseinanderweichen begriffen. Wir begaben uns rasch auf Deck und bemerkten, daß das Eis von einer etwa vierzig Fuß langen Spalte durchsetzt war, die man ohne Mühe noch hätte überspringen können. Im Laufe weniger Minuten hatte die Breite derselben wohl schon um das Zehnfache zugenommen urd kurz darauf trieb die ganze Eismasse, welche an der Steuerbordseite des Schiffes festgelegen hatte, mit bedeutender Geschwindigkeit nach Osten. Es war nicht schwer zu erkennen, daß die ganze Bewegung, deren Richtung nicht mit derjenigen des Windes zusammenfiel, von dem einsetzenden Fluthstrome herbeigeführt wurde. Wir hatten Vollmond, also Springfluth, und dadurch, daß die uns schützende Eismasse von der einen Seite des Schiffes weggetrieben war, wurde unsere Lage offenbar bedenklicher, als sie seither gewesen. Plötzlich hörte das Eis auf sich ostwärts zu drängen und wurde ruhig. Aber nur wenige Minuten dauerte dieser Stillstand, denn alsbald kamen die starren Massen mit Windesschnelle wieder auf uns zu, thürmten sich bis zur Höhe der Regling empor, und nach Verlauf von wenigen Secunden holte das Fahrzeug unter einem sehr beträchtlichen Winkel nach seiner Backbordseite über. Stärker und stärker wurde die Pressung; die Masten ächzten; die Deckplanken dröhnten und krachten, und so laut heulte der Sturm, daß er das Commando völlig übertönte. Es herrschte große Verwirrung an Bord. Instinctmäßig ergriff Jedermann, was ihm am nächsten war, und warf es auf das große Eisfeld, an welchem wir festlagen und dessen scharfe Kante unser Schiff jeden Augenblick zu durchschneiden drohte. Zuerst kamen die Kleidersäcke an die Reihe, die schon längst gepackt waren, dann folgten Matratzen, Koch-Utensilien, Gewehre und Munition. An Flaschenzügen wurden größere Fässer, sowie Kohlenstücke auf die Eiskante hinabgelassen, woselbst sie von der Mannschaft, deren größerer Theil sich schon auf dem Eise befand, nach der Mitte des Feldes, in die Nähe der Nothhütte gebracht wurden. Mancher werthvolle Proviant fiel in’s Wasser und ging verloren, allein bei der wilden Hast, mit der gearbeitet wurde, war dies unvermeidlich. Eile that Noth; denn das Wasser im Schiffsraume wuchs rasch und das Fahrzeug war seinem Untergange nahe. Der Schnee wurde von dem zum Orkan gesteigerten Winde in dichten Fluthen einhergewirbelt, so daß es oft unmöglich war, auf halbe Schiffslänge zu sehen, und nur mit großer Mühe konnten die Laternen brennend erhalten werden.

Plötzlich rissen mit dumpfem Klange die beiden Leinen, die uns an dem Eisfelde festhielten. Das Fahrzeug richtete sich auf und trieb mit rasender Geschwindigkeit von der Scholle hinweg, auf welcher sich die Mannschaft, der größte Theil des Proviantes, sowie die sämmtlichen Boote befanden.

„Lebewohl, Polaris!“ rief wehmüthig einer der Leute vom Eise her.

Der Anblick, der sich uns jetzt darbot, war grauenerregend. Das scheinbare solide Eisfeld war in mehrere Stücke geborsten, auf welchen unsere Leute, laut um Hülfe rufend, zertrennt waren. Schauerlich mischten sich diese Stimmen mit dem Geheul der Hunde, dem Rauschen des Windes und dem Getöse der Brandung, die sich zischend an den Eiskanten brach, deren gigantische Formen uns aus dem Dunkel der Nacht gespensterhaft entgegenschimmerten. Im Laufe weniger Secunden hatten wir unsere armen Cameraden aus den Augen verloren und wurden von dem orkanartigen Sturme auf einem wilden, aufgeregten Meere zwischen Verderben drohenden Eisklippen umhergeworfen.

Das Wasser im Schiffsraume war mittlerweile so hoch gestiegen, daß es die Feuer unter dem kleinen Dampfkessel zu verlöschen drohte. Wir versuchten, mit den Deckpumpen zu arbeiten. Aber vergebens! Sie waren eingefroren, und die kleine Dampfpumpe, deren wir uns vorher bedient hatten, war nicht mehr

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 665. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_665.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)