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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Zeitalters und durch die homerischen selbst wird alsbald angedeutet. Denn Telemach erwidert seiner Mutter:

Tadle den Phemios nicht, daß er singt von der Danaer Unheil,
Weil als vorzüglichstes Lied stets das bei den Leuten in Ruf steht,
Welches dem Hörer erzählt, was aus jüngster Zeit ihm vertraut ist.

Ganz auf derselben Stufe der im Bewußtsein der Hörer schon vorhandenen, aber noch von keiner ordnenden Kunst vollzogenen Einheit und Gruppirung um eine Hauptsage, die in jenem Liede als allbekannt vorausgesetzt wird, werden wir später auch die echten Reste des altgermanischen Epos vorfinden.

Mitschaffend auch am Zustandekommen der letzten Gestalt des Epos, nachdem es den Stoff ererbt, erlebt und erthatet, ist das Volk nur als von Sängern empfangend, annehmend und ablehnend, dadurch Sichtung und Auswahl gebietend, auch wohl als modelnd in märchenartigem Nacherzählen. Nur in diesem Sinne ist das Epos Volkspoesie – wie es denn überhaupt keine andere Volkspoesie jemals gegeben hat. Die lange geläufig gewesenen nebelhaften Vorstellungen von dieser sind durchaus nur mystischer Widersinn. Ein Volk als solches hat niemals gedichtet, immer nur Einzelne. Was auch der Menge dauernd gefällt und sich deshalb ganz oder stückweise ihrem Gedächtniß einprägt, das wird dadurch zum Volkslied gestempelt. Alles was man sonst Volkspoesie zu nennen pflegt, ist niemals etwas anderes gewesen, als entweder unvollkommener Anlauf zur Kunstpoesie oder heruntergekommene, durch Vergessen, durch Hinzuflicken von Stümperhand, durch Effecthascherei der Bänkelsänger vor geschmacklosem und gruselsüchtigem Pöbel verhunzte Kunstpoesie. So verhält sich beispielsweise die angebliche Volkspoesie unseres Mittelalters zu den wenigen echten Resten der Volkspoesie verwandten Stoffes aus unserem Heidenthum wie etwa zu einem aus Blumen und Aehren geflochtenen Erntekranz das Stroh eines Misthaufens.

Ein mit Recht hochangesehener Literarhistoriker hat sich gleichwohl die Mühe gegeben, mit bedeutendem Aufwande von Gründen den so unschweren als überflüssigen Beweis zu führen, daß meine Nibelunge ein Kunstepos seien. Was will er damit widerlegen? Machen sie etwa Anspruch, in jenem mystischen Sinne ein Volksepos zu sein? Wo giebt es ein solches? Sind Mahabarata und Ramajana, nach Abzug des später hinzugefälschten ascetischen Bramanenschwulstes, sind die Ilias, nach Abzug der wieder hineingestopften vorhomerischen und hinzugeflickten späteren Stücke, die Odyssee fast ganz, und Firdusi’s Schahnameh etwa keine Kunstepen? Nur gänzliche Unkunde könnte das behaupten. Ihre Volksthümlichkeit muß die letzte, auch nur zum Theil individuelle Poetenarbeit natürlich erst bewähren, und das kann für das Epos auf keinem andern Wege geschehen als dem, auf welchem es in meinem Falle geschehen ist. Aber nicht ohne die ganze große Geschichte der Germanen und ihre Götter- und Heldensage, ja zugleich die Großthaten des deutschen Stammes bis auf den heutigen Tag wie nicht vorhanden zu betrachten, könnte Jemand leugnen, daß gleichermaßen wie die genannten fünf bisher vorhandenen Epen auch meine Nibelunge die Frucht sind vieltausendjähriger Volksarbeit. Nicht als gegen eine Schmälerung meines Verdienstes müßte ich dagegen Einspruch erheben, sondern umgekehrt als gegen eine Ueberlastung mit einer wahren Atlasbürde unverdienter Ehre.

Von der letzten Arbeit, welche das Epos von jener Stufe der vorgebildeten Einheit im Bewußtsein des Volkes zum Kunstepos vollendet, hat schon mein voriger Brief einiges berührt und namentlich gezeigt, daß auch sie keineswegs nur Einzelarbeit sein darf, und wir werden noch mehrmals Veranlassung finden, näher darauf einzugehen.

Schon im nächsten Briefe aber will ich ausführen, was in diesem nur vorbereitend angedeutet wurde: daß der Stoff, der diese Gestaltungen durchzumachen hat, um Epos zu werden, nur ein einziger, uralter ist und schon von unserem Ahnenvolke, den Ariern, vorgebildet wurde; daß es mehr ist als ein spitzfindiger Einfall, wenn ich schon oft auf die Frage: welches Alter man wohl der Nibelungensage zuschreiben dürfe? geantwortet habe: sie sei bei weitem älter als die gesonderte Existenz des deutschen Volkes, ja der Germanen überhaupt.




Aus den letzten Lebenstagen des Fürsten Pückler-Muskau.
Von Dr. Liersch in Cottbus.

Gelegentlich der Erörterung der Leichenverbrennungsfrage ist in jüngster Zeit auch mehrfach der Zerstörung des Leichnams des Fürsten Pückler-Muskau gedacht worden. Aber sowohl in dem klaren und anregenden Vortrage, welchen Herr Professor Dr. Reclam aus Leipzig in der zweiten Sitzung der siebenundvierzigsten Versammlung der Naturforscher und Aerzte zu Breslau hielt, wie auch in der „Biographie des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau“ von Ludmilla Assing, sowie endlich in der in Nr. 34. dieses Blattes enthaltenen Mittheilung sind die Vorgänge bei der Zerstörung des Leichnams des Fürsten nicht genau geschildert. Nachdem ich nun schon im Jahre 1871 anderswo einen kurzen Bericht über die Bestattung des Fürsten Pückler-Muskau veröffentlicht habe, gestatte ich mir, den nachfolgenden Erinnerungen an die letzten Lebenstage des Fürsten eine wahrheitsgetreue Schilderung der Vorgänge bei der Zerstörung des Leichnams desselben hinzuzufügen. –

Raphael’s „Papst Julius der Zweite“, jenes hochberühmte Gemälde im Palazzo Pitti zu Florenz, welches uns einen der schönsten und ehrwürdigsten Greise vorführt, stieg mir immer lebhaft in der Erinnerung auf, wenn ich Morgens gegen elf Uhr in das Schlafzimmer und an das Lager des greisen Fürsten Pückler trat. Die rothseidene Mütze an Stelle des sonst die Haustoilette vollendenden Fez, der über die Schultern graciös geschlungene lila Shawl, die seidenen Handschuhe über den langen, schmalen, feinen Händen, der schöne wohlgepflegte weiße Bart und das markirte Gesicht mit der hohen Stirn und der starken Nase, besonders aber die milden blauen Augen hätten in dem im Bette aufrecht sitzenden und von seiner Morgenlectüre aufblickenden Patienten vielmehr einen ehrwürdigen Kirchenfürsten vermuthen lassen, als den durch die Strudel des Lebens so vielfach hin und her geworfenen Semilasso. Die ganze Decoration des Zimmers jedoch, die türkischen krummen Säbel, die indischen Waffen, die Straußenfedern und das mit buntbeblümter Portière halb verhüllte Feldbett ließen bald jeden Zweifel schwinden, daß der ehrwürdige Herr doch der einstige Freund Mehemed Ali’s und der Retter der schönen unglücklichen Machbuba sei. In überaus liebenswürdiger Weise lud er mich zum Niedersetzen ein, und nach kurzer Besprechung seiner physischen Erlebnisse und Zustände ging die Unterhaltung bald auf Tagesereignisse und Literatur über.

Fürst Pückler pflegte als Halbpatient in seinen letzten Lebenstagen, wie schon früher, die Nacht zum Tage zu machen. Er brachte oft den ganzen Tag im Bette zu, las, schrieb, empfing selbst intime Bekannte in seinem durch Vorhänge halbverdunkelten Boudoir, stand erst gegen Abend auf, um seine übliche sorgsame Toilette zu machen und ein Bad zu nehmen, und begrüßte dann in seinem bekannten türkischen Costüme die zum Abenddiner geladenen Gäste, um sich ihnen bis nach Mitternacht als der liebenswürdigste Wirth zu zeigen. Zuweilen blieb er tagelang allein in seinen Gemächern, um dann mit einem Male mit der Elasticität eines Jünglings, sei es bei Tage oder bei Nacht unter Fackelbeleuchtung, einen weiten, stundenlangen Spaziergang durch seinen so sehr gepflegten und doch immer umgeänderten Park zu machen. Sein bis in’s hohe Alter sich vortrefflich haltendes Auge gestattete ihm selbst ohne Brille die langen Nächte hindurch bei Oellampenlicht die feinste Druckschrift zu lesen, und so war Lectüre oft seine einzige Unterhaltung außer den alltäglichen Geschäften, welche sein Besitzthum und die nimmer endenden Parkanlagen mit sich führten. Mit Vorliebe las er in der letzten Zeit Bodenstedt, Schopenhauer und russische Dichter; Gespräche über transscendentale Dinge, über Unsterblichkeit, über psychologische Fragen regten ihn stets an, wie er aber auch gern von den neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaften sich Bericht erstatten ließ.

Den leiblichen Schmerz, den er in seinem reichen Leben im Ganzen wenig auszuhalten nöthig gehabt hatte, dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 390. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_678.jpg&oldid=- (Version vom 22.1.2017)