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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

sie als Neuling oder fremden Eindringling zu necken oder sich an ihr zu reiben; aber anstatt sie niederzudrücken oder einzuschüchtern, hatte das vielmehr dazu gedient, die ihr eigene Widerstandsfähigkeit wachzurufen und sie zu erinnern, daß auch sie nicht ohne Stachel sei. In solch gemischter, halb gereizter, halb befangener Stimmung erwartete sie nun auch den Beginn der Hauptprobe; nachdenklich hing ihr Blick an den leinwandenen Bäumen und den Bergen aus Pappendeckel, von denen sie umgeben war, und unwillkürlich schwebten ihre Gedanken von denselben hinweg und hinaus zu den wirklichen, auf denen eben wieder der Frühling einzuziehen begann – sie mochte die Empfindung eines gefangenen Vogels haben, den man dadurch an die Freiheit glauben machen will, daß man abgebrochene grüne Zweige um die Eisendrähte seines Käfigs steckt.

Ein heftiger Schlag, der unmittelbar neben ihr ertönte, schreckte sie aus ihrem Brüten auf, daß sie schreiend zusammenfuhr – es war ein Kanonenschuß, den der Inspicient eben auf der großen Trommel markirt hatte. Lachend wendeten sich die Schauspieler nach der Unerfahrenen um; sie waren eben um die schwarze Probirtafel unter der Theateruhr versammelt, auf welcher der Theaterdiener das Repertoire der nächsten Woche angeklebt hatte; dasselbe verkündete nebst Wiederholung des heutigen Stückes das Zaubermärchen „Adler, Fisch und Bär“, die Possen „Die falsche Catalani“ und „Staberl in floribus“, zur gebührenden ernsten Abwechselung aber das Schauerstück „Der Nachtwandler in der Todtengruft von Glenthorne“ und das große Ritterschauspiel „Kuno der Entartete“.

„Immer wieder die alten Schmarren!“ rief der Heldenliebhaber, nachdem er gelesen, unwillig aus. „Keine einzige ordentliche Rolle, in der es der Mühe verlohnte, sich zu plagen! Man muß versauern und verbauern bei dieser Bande.“

„Pah, daraus mach’ ich mir nichts,“ bemerkte ein kleiner, schmächtiger Mann, der Bösewichter und ähnliche Rollen zu spielen pflegte und den Anschlag mit raschem Blicke überflogen hatte. „Sechs Stücke, und sechsmal zu thun! Ich komme auf mein Spielgeld; das ist die Hauptsache.“

„Dafür kennt man Euch,“ entgegnete der edle Vater, eine große Gestalt mit mächtiger Baßstimme und der Haltung eines Festpredigers. „Ihr habt keinen andern Gedanken als Geld und wieder Geld. Wo bleibt da die Kunst?“

„Was mit der Kunst werden soll,“ rief der Liebhaber wieder dazwischen, „das kann man sich denken, wenn ein solches Repertoire gemacht wird. Das edelste Pferd, wenn es immer im Stalle steht, muß steif und lahm werden. Aber ich werde mit dem Director reden; ich werde ihm sagen –“

„Was wird es helfen, was Ihr ihm sagt?“ unterbrach ihn spöttisch der Bösewicht. „Der Director ist ein praktischer Mann; er wird sich die Hände reiben und sagen: ‚er müsse auf Das sehen, was volle Häuser und volle Cassen mache,‘ und das muß man ihm nachsagen, er kennt sein Publicum; es vergeht fast kein Abend, an dem wir nicht ausverkauft haben.“

„Und die Kunst wird darüber zum Handwerk,“ rief der edle Vater feierlich.

Der Bösewicht zuckte die Achseln. „Möglich; aber nach dem Sprüchworte hat das Handwerk einen goldenen Boden.“

„Krämerseele!“ murmelte der Held in sich hinein.

Der Bösewicht that, als ob er nicht höre, aber fuhr giftig fort: „Wenn Ihr doch einmal dem Director etwas sagen wollt, dann sagt ihm lieber, er solle sich von seinem Regisseur nicht so viel einreden lassen! Diesen Ritterschmarren ‚Kuno der Entartete‘ hat kein anderer Mensch auf das Repertoire gesetzt, als er, weil er den Kuno gerne spielt.“

„Ja, den Ihr gerne spielen möchtet,“ rief der edle Vater hinwider. „Diesmal seid Ihr Euch selbst ungetreu geworden. Was thut’s, wenn Ihr neben dem Regisseur den Burgvogt spielen und ihm das Licht halten müßt? Ihr kommt ja doch auf Euer Spielgeld.“

Lautes Lachen belohnte die Rede, so daß der Inspicient sich bemüßigt sah, durch abmahnendes Zischen Ruhe zu gebieten; leiser mischte sich ein junges, schlank gewachsenes Mädchen mit hochblonden Haaren in das Gespräch, von dem ihr, obwohl sie mit anderen Gedanken beschäftigt schien, kein Wörtchen entgangen war. Sie hatte Corona von ihrem Standpunkte näher kommen sehen und war gleich darauf bedacht, eine stachlige Bemerkung zu machen; war sie doch Gesangs-Soubrette, also zunächst bedroht, falls die Anfängerin Glück machen und auf der Bühne Fuß fassen sollte.

„Das ist noch lange nicht das Schlimmste,“ sagte sie möglichst laut, indem sie sich den Anschein gab, als bemerke sie Corona nicht. „Das Unausstehlichste bei uns sind diese ewigen Versuche mit Anfängern, von denen man doch weiß, daß sie zu gar nichts führen. Es braucht jetzt sonst nichts, als ein paar Töne im Halse zu haben, um von den Bauern hereinzulaufen und Sängerin zu werden. Ah, sind Sie da?“ unterbrach sie sich selbst, als ob sie Corona erst jetzt bemerke. „Ich habe Sie nicht gesehen und wollte Sie nicht kränken. – Weil Sie aber meine Worte doch schon gehört haben, nehme ich sie nicht zurück. Sie thun mir leid, mein gutes Kind.“

„Das ist sehr hübsch von Ihnen, mein Fräulein,“ unterbrach sie eine schöne junge Frau, welche eben hinzugetreten war und die letzten Worte noch vernommen hatte – es war die Frau des Directors Carl, die beliebte Darstellerin aller zärtlichen und rührenden Liebhaberinnen. „Noch schöner aber wäre es, wenn Sie Ihr Beileid in etwas sanftere Worte gekleidet hätten. Sei ohne Sorge, mein Kind!“ fuhr sie dann, zu Corona gewendet, mit der sanften Stimme fort, die ihr immer schon mit den ersten Lauten die Herzen aller Hörer gewann. „Du hast Dich auf einen steilen Pfad begeben und wirst wohl von Deinen Bergen her wissen, wie rauh es sich auf solchen wandelt.“

Corona war mit glühendem Antlitze dagestanden, begierig, auf den Angriff etwas zu erwidern, und doch außer Stande, es zu thun; so unverhohlener Bosheit gegenüber hielt ihre gewöhnliche Schlagfertigkeit nicht Stand. Sie folgte Frau Carl in die Tiefe des Theaters, ergriffen von der liebevollen Leutseligkeit der schönen Frau; das Eis, das ihr der Hohn an das Herz geschleudert, löste sich vor dem warmen Hauche wahrer Theilnahme in Thränen und quoll ihr heiß über die Wangen herab.

„Sei ruhig, Mädchen!“ sagte Frau Carl wieder. „Du hast den Versuch gewollt; also bleibe auch standhaft dabei! Glaube mir: Du hast einen Beruf gewählt, der viele Rosen verspricht, aber mehr Dornen bringt – Du mußt auf Beides gefaßt sein.“

Sie wollte noch mehr sagen, aber der Inspicient rief Corona zu: ihre erste Scene war gekommen. Gefaßt und entschlossen stieg sie die Brettertreppe zu der gemalten Sennhütte hinan, vor der sie ihr erstes Lied zu singen hatte; die Schauspieler traten neugierig in die Coulissen etwas vor; auch der Regisseur kam von der Bühne näher, die Ursache der kleinen Verzögerung, die entstanden war, zu erfahren. Er kam der blonden Sängerin gegenüber zu stehen, und unbewacht und unbemerkt flog ein rascher Blick des Einverständnisses zwischen Beiden hin und her.

Die Probe nahm ungestört ihren Verlauf, und rasch kam die weitere Scene heran, in welcher Corona auf der ebenen Bühne spielen und ein Lied singen sollte, das kein bloßer Naturgesang war; in ihm sollte sie bewähren, daß die Vogelkehle fähig war, sich der Weise des Vogelstellers zu fügen, die er ihr vorgespielt und eingelernt. Sie hatte vorher ein kleines Selbstgespräch zu halten und mußte sich den Anschein geben, als habe sie Heu zusammenzurechen. Das Werkzeug dazu lehnte an einem Felsstücke im Vordergrunde. Der Regisseur benahm sich äußerst schweigsam und zurückhaltend; er machte keine Bemerkung, um sie nicht, wie er sagte, im letzten Augenblicke zu verwirren; nur darauf legte er großes Gewicht, daß der Rechen ja gewiß an dem bestimmten Orte liege. Er rief eigens den Requisiteur herbei, um ihn auf die Wichtigkeit des Gegenstandes aufmerksam zu machen, dessen Mangel die noch ungeübte Darstellerin leicht vollständig aus der Fassung bringen könnte; dieser versicherte hoch und theuer, daß nichts fehlen solle; auch der Maschinist Sußbauer, die Zimmerleute und der schwarzhaarige Aushelfer versprachen ihr Augenmerk darauf zu richten, und so ging Alles in den besten Hoffnungen auseinander.

In wenigen Augenblicken war die ganze Bühne leer und dunkel. An den Stufen, die in den Corridor führten, traf der Regisseur, wie zufällig, mit der hochblonden Localsängerin zusammen: ein paar flüchtige Worte wurden zwischen ihnen gewechselt; ein noch flüchtigerer Blick der Dame deutete nach dem Felsstück mit dem Rechen.

Erst als Alles still geworden war, huschte auch Corona die Treppe hinunter und aus dem Hause.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 704. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_704.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)