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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

käuflich erworben, dessen Besitzer gestorben war. Die Gärten der beiden Häuser – sie trugen die schönsten Fliedersträuche, die ich jemals gesehen – stießen an einander, und man hatte geglaubt, er habe den Kauf hauptsächlich gemacht, um seinen Garten zu vergrößern, dessen Pflege er sich sehr angelegen sein ließ, aber der Zaun, der die beiden Besitzthümer trennte, fiel nicht; weder das angekaufte Haus noch der Garten wurden jemals benützt. Ueber den Grund dieses seltsamen Verfahrens mögen seiner Zeit wohl die mannigfachsten Vermuthungen umgelaufen sein; als ich in das Alter kam, darüber nachzudenken, waren sie längst verstummt und das ehemalige Dreßler’sche Besitzthum ein Gegenstand abergläubischer Furcht geworden. Man wollte seltsame Schatten an den geschlossenen Fenstern, eine weiße Gestalt im verwilderten Garten gesehen haben, ja, man war so fest überzeugt von dem Dasein dieser Gestalt, daß man ihr einen Namen gab und sie Sabine nannte nach einer Tochter des früheren Besitzers, die in der Ferne geheirathet und, wie man wissen wollte, unglücklich geworden war. Ob diese Tochter noch lebte, wußte man nicht, man mußte aber wohl das Gegentheil angenommen haben, denn wie hätte sonst ihr Geist umgehen können?

Zur Zeit, da ich mich der Wiesenheimer Schuljugend beigesellte, galt es für einen Beweis hohen Muthes, am späten Abend an dem Dreßler’schen Hause vorüberzugehen, und ich gelangte bei meinen Cameraden in den Ruf wilder Tollkühnheit, als ich einmal gewagt hatte, zu später Stunde den kleinen Bach zu durchwaten und in den öden Garten einzudringen. Mir war die weiße Sabine nun freilich nicht sichtbar geworden; ich war ja eben an Mittfasten geboren und deshalb kein Sonntagskind, welches bekanntlich stets ein Auge für Gespenster haben muß, aber auf die Schmerzen, die mir bei diesem Abenteuer die Dornen und Brennnesseln an Händen und Füßen verursachten, war ich so stolz, wie ein Krieger auf seine im ehrenvollsten Kampfe erlangten Wunden. Mein Herr Pathe, der alte Hartlieb, würde an diesem Wagestück wohl schwerlich Gefallen gefunden haben und hat es auch niemals erfahren.

Er kümmerte sich um jene Zeit wenig um mich und ich sah ihn nur, wenn er bei meinem Vater ein neues Kleidungsstück bestellte oder eine Rechnung zu bezahlen kam. Alsdann sprach er mich freundlich an, ließ sich auch wohl mein letztes Schulzeugniß zeigen und klopfte meinen flachsblonden Kopf oder schüttelte seinen grauen, je nachdem es eben ausgefallen war. Aber je älter ich wurde, desto häufiger wurde das erstere, das beifällige Klopfen meines Kopfes nämlich, denn das Lernen wurde mir leicht und machte mir darum auch Freude.

Mit der Zeit trat denn auch die Frage an uns heran, was aus mir wohl eigentlich werden sollte. Karl und Gottlieb handhabten schon Nadel und Scheere; Gideon war bei einem Bäcker in die Lehre getreten, Desiderius frühzeitig gestorben, ich selbst aber verspürte nicht die geringste Lust für das ehrsame Schneiderhandwerk, denn seit ich einmal als Kind der bei meiner Mutter zum Besuche sitzenden Gevatterin, der reichen Bäckermeisterin Klenze, ohne daß sie es bemerkte, kleine kunstlose Viereckchen aus dem feinen kornblauen Wollenkleide geschnitten und von meinem Vater die gebührende Strafe mit dem Rohrstöckchen empfangen, hatte ich mich weislich gehütet, jemals wieder eine Scheere zur Hand zu nehmen.

Zum Ueberfluß war auch noch mehrere Jahre nach mir ein Brüderchen geboren, ohne daß die Reihe männlicher Nöhrings durch eine Anna ober Marie unterbrochen worden wäre, und der kleine Anselm offenbarte schon jetzt ein auffallendes Talent für das erbliche Handwerk. Selbst mein Vater, ein so eingefleischter Schneider er auch war, konnte nicht erwarten, mehr als drei seiner Söhne in seine Fußstapfen treten zu sehen – aber was sollte aus mir werden? Bei seinem nächsten Besuche wurde des alten Hartlieb Rath eingeholt. Er kam auf den Ausweg, mich selbst danach zu fragen, was meinem Vater niemals eingefallen war.

„Wozu hättest Du wohl Lust, mein Sohn?“ und da er sah, daß ich zögerte, „sprich nur dreist heraus! Wir wollen sehen, was sich thun läßt.“

Da faßte ich Muth zu dem kühnen Bekenntniß:

„Am liebsten möchte ich wohl studiren und Arzt werden, Herr Pathe.“

Mein Vater glaubte, ich habe den Verstand verloren, und meine Mutter schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, aber der alte Hartlieb wiegte nur bedächtig sein graues Haupt und sagte: er wolle sich die Sache überlegen.

Und am nächsten Morgen kam er wieder und erklärte meinem Vater, er wolle von nun an die Sorge für meine Ausbildung übernehmen und mit Gottes Hülfe einen Arzt aus mir machen. Mein Vater war es wohl zufrieden, und meine gute Mutter – ich glaube, sie hatte die ganze Nacht wach gelegen vor Sorge und Aufregung – küßte mich unter Freudenthränen, und mit Thränen und Segenswünschen entließ sie mich einige Zeit darauf, als ich an die höhere Schule abging, die mich für die Universität vorbereiten sollte.

Endlich bezog ich die Universität und setzte stolz hinter meinen Namen ein: stud. med. Ich bewohnte ein Stübchen, das in einem vierten Stockwerke nach vorn heraus gelegen war. Schon an dem Tage meines Einzuges bemerkte ich gegenüber an einem Fenster, allerdings tief unter meiner Höhe, einen braunlockigen Mädchenkopf, der sofort mein ganzes junges Herz in Flammen setzte. Ich hütete mich wohl, mich danach zu erkundigen, wer dort drüben wohne, es hätte ja meine ganze Illusion zerstört, wenn ich erfahren, sie sei anderen Leuten als Fräulein Schulze oder Müller bekannt; für mich sollte sie die Eine, die Namenlose bleiben. Ich bedurfte keines Namens, sie damit zu bezeichnen, denn neben ihr gab es für mich ferner kein Mädchen auf der Welt. Ich vergaß gänzlich das rosenwangige Minchen Klenze, obgleich mir das freundliche Mädchen zum Abschied ein so schönes Buchzeichen von himmelblauer Seide mit der Inschrift: „Aus Freindschaft“ gestickt hatte.

Auch einen anderen Frauenkopf mit silberweißem Scheitel erblickte ich zuweilen neben dem braunlockigen, der mit diesem eine unverkennbare Aehnlichkeit zeigte. Natürlich machte die Liebe mich zum – Dichter. Aber über dem Dichten versäumte ich das Studiren nicht, nein, ich widmete mich ihm mit verdoppeltem Eifer, denn ich hatte mir vorgesetzt, nach glücklich bestandenem Examen die Bekanntschaft meiner Angebeteten zu suchen, und war von dem Gelingen dieses Vorhabens ziemlich fest überzeugt. Aber ach, als ich einst nach den im Elternhause verlebten Ferien in mein mir so lieb gewordenes Stübchen zurückkehrte, suchte ich im Hause gegenüber umsonst den braunen Mädchenkopf; die Fenster waren alle geöffnet und ließen mir den Einblick in die leeren Wände – die Familie war ausgezogen. Umsonst durchwanderte ich die Straßen der Stadt und blickte an den Häusern empor, nirgends sah ich die Eine, der mein Suchen galt.

Es vergingen Jahre; ich bestand glücklich mein Examen und erhielt eine Anstellung als Gehülfe eines berühmten Arztes. Die Meinigen hätten es gar gerne gesehen, wenn ich mich in meiner Vaterstadt niedergelassen. Allein ich wollte erst noch ein wenig mich in der Welt umsehen, auch besaß Wiesenheim bereits einen geschickten Arzt außer dem alten Wundarzte, der allen kleinen Wiesenheimern die ersten Zähne ausriß, und der Ort war zu gesund, als daß er einem Dritten Beschäftigung geben konnte. Mein Pathe Hartlieb, der ganz in seiner alten Weise fortlebte, billigte meinen Entschluß vollständig.

Eines Abends saß ich noch spät bei meiner Studirlampe, als meine Aufwärterin eilig in’s Zimmer trat.

„O Herr Doctor, Sie möchten recht schnell zu einer Kranken kommen – es soll sehr schlimm stehen.“

Vor der Thür erwartete mich ein sauberes junges Mädchen, die mich mit den Worten empfing:

„Kommen Sie nur recht schnell, Herr Doctor! Unsere Frau Geheimräthin will sterben.“

„Ist es wirklich so gefährlich?“ fragte ich unterwegs.

„Ganz gewiß, sonst würde ich Sie nicht geholt haben, sondern zu einem bessern Arzte gegangen sein, so aber sagte unser Fräulein, ich solle den holen, der am nächsten wohnt.“

Sie führte mich in ein elegant möblirtes Schlafzimmer, in welchem eine alte Frau mit dem Tode rang. Ich erkannte sofort die Größe der Gefahr, aber auch zugleich, daß der Fall noch nicht hoffnungslos war.

Zu Füßen des Bettes, in welchem die Kranke lag, kniete eine schlanke Mädchengestalt und verbarg schluchzend ihr Gesicht. Bei meinen ersten Worten, die von Hoffnung sprachen, erhob sie den Kopf und blickte durch ihre strömenden Thränen zu mir auf, aber bei der schwachen Beleuchtung des Zimmers konnte ich ihre Züge nicht erkennen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 832. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_832.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)