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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

„Hoho, mein Junge, wahr’ Deine Worte! Glaubst Du, ich sagte meinem leiblichen Bruder eine Schlechtigkeit nach, ohne meiner Sache gewiß zu sein? Weshalb meiden wir uns denn, er und ich, schon seit Jahren? Weshalb gehen wir, wenn unsere Wege einmal, was selten geschieht, sich kreuzen, mit einem trockenen ‚Guten Tag!‘ an einander vorüber? Hältst Du Deinen Vater für einen bösen, unfriedlichen, neidischen Menschen, der seinen Bruder haßt, weil dieser Glück gehabt hat und reich geworden ist, während er selber arm blieb?“

„Und doch sag’ ich Dir, Vater, ich sage Dir, Du irrst, Du irrst ganz fürchterlich,“ rief Rudolph in höchst merkwürdiger Aufregung aus.

„Frag’ doch Malwine! Frag’ sie, wo ihr Capital sei, das Capital, das ihr Vater ersparte und sich abdarbte, um seinem Kinde etwas zu hinterlassen? Vielleicht wird sie es Dir sagen – vielleicht nicht. Aber ich weiß es. Und das, eben das wurmt mich, daß ein Mensch nur hingehn und sich irgend ein Capital rauben, erschwindeln, unterschlagen darf, um dann den Herrn in der Welt spielen und andere Menschen, die nur ihre ehrliche Arbeitskraft haben und nichts weiter, ausbeuten zu können, daß er mit einem Sacke Geld in der Hand, den er vielleicht nur gestohlen hat, sprechen kann: jetzt bin ich ein Brahmine in dieser vortrefflichen Kastenwelt, und ihr, ihr Andern seid Parias, Parias, die sich nicht einfallen lassen sollen, hinaufzublicken zu meiner Tochter. Das wurmt mich. – Wenn er das Capital mit auf die Welt brächte, wie einen sechsten Sinn, wie ein drittes Auge oder ein Paar Finger an den Händen mehr, die er vor anderen Sterblichen voraus hätte, dann wollte ich mir’s gefallen lassen. So aber nicht. So sag’ ich: das ist nicht Gottes, sondern des Teufels Weltordnung, und darum steh’ ich auf Seiten der Arbeiter im Kampfe wider das Capital.“

(Fortsetzung folgt.)



Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin.
Von Otto Glagau.
2. Der Tanz um das Goldene Kalb.

Niemand – auch unsere lorbeergekrönten Feldherren nicht – Niemand ahnte und konnte ahnen die beispiellos schnellen und gewaltigen Erfolge, womit der Feldzug gegen Frankreich begann. Aber von vornherein war das deutsche Volk voll Hoffnung und Vertrauen, und es zeigte eine Begeisterung und einen Opfermuth, die wahrlich an die Zeit der Befreiungskriege erinnerten. Ganz anders die Börse. Dank ihrem „internationalen“, das heißt vaterlandslosen Charakter wußte die Börse sich vor Angst und Zweifel nicht zu lassen. Noch hatte der Kampf nicht einmal angefangen, da ließ die Börse schon consolidirte preußische Staatsanleihe, also ein Papier, das nur mit dem preußischen Staate selber fallen kann, und das heute mit circa 105 notirt wird, bis auf 80 stürzen!! In Folge dieses Börsenfiebers wurden auch die jeden Augenblick einlösbaren Noten der Preußischen Bank im Klein- wie im Groß-Verkehr vielfach zurückgewiesen, und das Silber- und Gold-Agio (Aufgeld) erstieg eine unsinnige Höhe.

Einmüthig bewilligte der Reichstag die Mittel zur Führung des Krieges, die 120 Millionen-Anleihe des norddeutschen Bundes, und der Reichskanzler legte dieselbe zu dem sehr bescheidenen Course von 88 auf. Aber was geschah?! – Die Zeichnungen fielen höchst kläglich aus; an der Berliner Börse wurden ganze drei Millionen gezeichnet. Die Börse traute dem norddeutschen Bunde nicht; außerdem fanden die Börsen-Matadore den Subscriptionspreis von 88 noch nicht niedrig genug, und überhaupt grollten sie dem Reichskanzler, daß er dem preußischen Finanzminister, und nicht ihnen, das „Geschäft“ übertragen hatte. Es schien den Herren, daß nichts zu „verdienen“ sei; man intriguirte sogar gegen die Anleihe, und daher rührt der Mißerfolg.

Am 4. August lag die Anleihe zur Subscription auf, und am selben Tage erstürmte der Kronprinz von Preußen die Linien von Weißenburg. – Ach, wäre dieser glänzende Sieg doch schon bekannt gewesen, um wieviel „patriotischer“ hätte sich dann die Börse bewiesen! Gewiß, die Anleihe wäre voll gezeichnet; nein, zehnmal überzeichnet worden! Wie lüstern schielten die Herren jetzt nach dem noch unbegebenen Rest der Anleihe! Aber der Finanzminister sagte: Mit nichten! und gab diesen Rest zu weit höherem Course der preußischen Seehandlung ab, die trotzdem ein gutes „Geschäft“ machte, denn wie bekannt, ging die norddeutsche Bundes-Anleihe bald über Pari (100).

„Das Capital hat kein Vaterland!“ – dies ist die wahre Gesinnung, der offne Wahlspruch der Börse, und demgemäß handelte auch einer ihrer Angehörigen, der Banquier G… in Berlin, indem er, noch während wir mit Frankreich im Kriege lagen, flott auf die französische Anleihe zeichnete. Erst der Staatsanwalt und die Anklage auf Landesverrat konnte ihn zum Bewußtsein seiner preußischen Staatsangehörigkeit bringen.

Es folgten die Siege von Wörth und Spicheren; es kam der Tag von Sedan – und nun war Niemand „patriotischer“, Niemand von Jubel so voll und so toll wie die Börse. Während unsere Soldaten den Feind vor sich hertrieben, trieb die Börse die Course in die Höhe; während die französischen Gefangenen Deutschland überschwemmten, überschwemmte die Börse den Markt mit ausländischen Papieren. Zunächst führte sie die amerikanischen Eisenbahn-Prioritäten ein, immer eine nach der andern, die seitdem so berüchtigt gewordenen Alabama–Chattanooga, Oregon und California, Georgia Aid, Port Royal, Peninsular, Rockford Rock Island etc. etc., schließlich sechsundzwanzig an der Zahl. Diese famosen Prioritäten fanden in Amerika selber keine „Nehmer“. Folglich mußte Deutschland damit beglückt werden, wo sie in der Hauptsache auch wirklich untergebracht sind. Zum Course von 70 (namentlich in Berlin und in Frankfurt am Main) eingeführt, stehen sie heute durchschnittlich etwa 15 bis 20, weil sie fast alle keine Zinsen mehr zahlen; viele werden gar nicht mehr notirt, da sie völlig unverkäuflich sind, denn die betreffenden Bahnen haben Bankerott gemacht, oder sie liegen unvollendet in Ruinen da. Auf diesem Wege sind an 100 Millionen Thaler in’s Ausland geflossen, und nicht viel weniger dem deutschen Publicum aus der Tasche gestohlen worden. Aber die Lockpfeife der Börse klang auch gar so süß! Die Prioritäten versprachen einen Zinsgenuß von acht bis zwölf Procent; sie konnten und mußten noch bedeutend im Course steigen; sie wurden dem Capitalisten als eine feste Anlage empfohlen, und von diesem sehr häufig mit den sogenannten amerikanischen Bonds, den Schuldverschreibungen der nordamerikanischen Union verwechselt, also für ein Staatspapier genommen, das sich inzwischen bewährt hatte.

Nach den amerikanischen Prioritäten debütirte die Börse mit einer Sorte von Actien, gegen welche selbst die Strousberg’schen Fabrikate solide genannt werden müssen. Es handelte sich um Eisenbahnen, von deren Existenz bisher Niemand in Deutschland eine Ahnung gehabt hatte, wie Lüttich–Limburg, Schweizer Union, Tamines–Landen. Schon der Einführungscours (18 bis 24) ließ auf den eigentlichen Werth der Waare schließen; aber eben dieser niedrige Cours verführte zum Kaufen. „Das Effect ist so billig, daß es steigen muß!“ ließen die betheiligten Bankhäuser austrompeten, und auch der kleine Mann, auch Hausknechte und Wäscherinnen gaben ihre Sparpfennige für Schweizer Union und Tamines–Landen her. Dazu hatten die Papierchen noch einen besonderen Ausputz: Sie, die nie einen Heller Dividende gegeben und nie einen geben werden, sie wurden trotzdem mit vier Procent Zinsen gehandelt, und zwar dem vollen Nennwerth nach. 24 oder gar 18 Thaler wurden angeblich mit 4 Thalern, 100 Thaler also mit 16 bis 24 Procent verzinst. Das sind die sogenannten „Börsenzinsen“ – natürlich eine bloße Fiction. Der glückliche Besitzer zahlt die enormen Zinsen an sich selber, aus seiner eigenen Tasche. Diese federleichten Actien wurden nun zu reinen Spielpapieren, auch in der Hand des Privatmannes, denn Jeder wollte an ihnen nur verdienen, die übermäßigen Zinsen einstreichen und außerdem womöglich noch am Course profitiren. Wirklich wurden Lüttich–Limburg und Schweizer Union bis auf 35 hinaufgetrieben, aber

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_062.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2018)