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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


sehr nachdenklich sich in die kleine Hand stützen, diese feinen Lippen sich über den Zähnen fest schließen, als bewahrten sie ein tiefes Geheimniß. Wer konnte sagen, ob das Bild so nicht „interessanter“ geworden wäre? Aber es sollte nur wahr sein. Wie anziehend wurde es durch diese Unbefangenheit!

Arnold stellte es wieder an seinen Platz. Er bemerkte jetzt erst ein Pendant auf der anderen Seite des Tisches. Das zweite Bild in ganz ähnlichem Rahmen zeigte einen jungen Officier in auffallend gezwungener Haltung, als sollte vor allen Dingen die Uniform würdig verewigt werden. Das ernste Gesicht contrastirte merklich mit dem heiteren der jungen Dame. Die Stirn war über der schmalen, sanft gebogenen Nase zu einer feinen Falte zusammengezogen. Und der Feldherrnblick! So sah ein künftiger Napoleon als Lieutenant aus. Vielleicht war die Photographie kurz vor dem Auszug der Truppen aufgenommen, und der junge Held träumte sich schon in das eroberte Berlin. Was hatte er in diesen wenigen Monaten seitdem erlebt? Auf welchem Schlachtfelde hatte er Frankreichs Adler in den Staub sinken sehen? Lag er neben anderen Tapferen in kühler Erde bei Wörth oder bei Sedan? War er eingeschlossen in Straßburg oder Metz? Hatte er als Kriegsgefangener in Breslau oder Königsberg Zeit, über die Eitelkeit der Ruhmbegierde nachzudenken? Es gab mancherlei Möglichkeiten, aber jeder haftete eine schwermüthige Betrachtung an.

Das deutsche Gemüth konnte nicht unbetheiligt bleiben. Es suchte ein Verhältniß zu diesen Menschen, die ihm noch vor wenigen Minuten ganz fremd gewesen waren und jetzt ihm Räthsel aufgaben. Der erste Gedanke war: sie sind Bruder und Schwester. Aber dann kamen Zweifel. Jede Familienähnlichkeit schien zu fehlen. Warum nicht Bräutigam und Braut? Vielleicht bereits verheirathet … eine sehr störende Vorstellung.

Warum störend? Was ging ihn die kleine Französin an, oder dieser künftige Marschall von Frankreich? Ah! das war bald gesagt, aber es sind nicht immer logische Schlüsse, die unseren Antheil an dem bestimmen, was zufällig in unsern Gesichtskreis kommt. Es giebt zwischen der Welt in und außer uns geheimnißvolle Verbindungen, die jedes philosophischen Calcüls spotten und für die der Mathematiker keine Formel findet. Hunderttausende wären an diesem unbedeutenden Bilde vorübergegangen, ohne es mehr als eines flüchtigen Blickes zu würdigen. Arnold Rose konnte davon nicht los kommen. Und es zog ihn nicht an, wie etwa ein Kunstwerk; es gefiel ihm auch nicht, wie sonst wohl ein hübscher oder interessanter Gegenstand gefällt, der sich dem Auge einprägt – es war ihm, als ob plötzlich etwas lange Geahntes und immer Unbegriffenes in ihm auflebte und ihn überwältigte. Er lehnte sich in den Stuhl zurück und deckte die Hand über die Augen; aber nun tauchte sogleich das Bild aus dem Dunkel auf und gewann sogar Farbe. Dasselbe unheimliche Gefühl überkam ihn, wie gestern, als er die Glocke gezogen hatte und der helle Ton durch das leere Haus klang. Er stand auf und eilte mit hastigen Schritten nach dem Salon zurück.

Er trat an die Balconthür und öffnete sie. Die kühle Luft drang erfrischend ein; er athmete leichter auf. Unten trugen die Cameraden Matratzen, Betten und Körbe mit Weinflaschen durch den Garten; sie lachten und scherzten. Auch ein Vorrath von Cigarren schien entdeckt zu sein, denn die meisten pafften munter, daß der blaue Rauch sich über ihren Köpfen kräuselte. „Und Du stehst hier wie Hans der Träumer,“ schalt sich Arnold, „und solltest der Thätigste sein! ‚Ein Mägdelein nasführet Dich!‘ Fort! Das ist eine ungesunde Stimmung. Ein Mann muß wissen, was er will –“

Er wendete sich kurz um und ging der Ausgangsthür zu, fest entschlossen, diese Zimmer nicht wieder zu betreten. Wahrscheinlich wollte er sich auch gar nicht mehr umschauen, aber wenn er auch wirklich nicht den Kopf drehte, die Augen kamen doch, als er den Thürflügel anzog, unwillkürlich in die Richtung der Portière, und es war dann nicht seine Schuld, daß er unter derselben hinweg gerade den vergoldeten Bronzerahmen glänzen sah, und trotz der Entfernung das Bild darin erkannte. Er hätte darauf schwören mögen, es so auf den Schreibtisch gestellt zu haben, daß es ihm jetzt die Kehrseite zuwenden müßte. „Das ist doch wunderbar,“ sagte er halblaut, blieb stehen und schloß wieder die Thür. „Bin ich denn wie verwünscht?“ Es schien ihm bei alledem ganz angenehm zu sein, einen Vorwand zu längerem Zögern gefunden zu haben. Bald saß er wieder auf dem Lehnstuhle vor dem Schreibtische und hatte das kleine Gestell in der Hand.

Er prüfte, wie das Bild darin befestigt sei. Vier Klammern von dünnem Blech drückten es gegen den Rahmen. Sie ließen sich mit Leichtigkeit aufbiegen, selbst ohne Anwendung eines Instruments. Er probirte es an der einen Seite, dann an der andern – das Blättchen fiel auf den Tisch. Seine Hand zitterte ein wenig, als sie sich danach ausstreckte, wie nach unrechtmäßig erworbenem Gute. Was ist denn da zu bedenken? In Feindesland – ! und eine Photographie in Visitenkartenformat! Die Frau Mama oder das Töchterchen hatten gewiß noch Vorrath, und wenn nicht – es war bald ein Ersatz geschafft. Warum nicht ein Andenken mitnehmen, das so wenig reellen Werth hatte? Der gewissenhafteste deutsche Philister konnte bei diesem Raube ruhig schlafen.

Er zog seine Brieftasche heraus und öffnete sie – das kleine Bild schlüpfte hinein zwischen die Briefe der Mutter.

Nun ganz beruhigt durch die Sicherheit seines Besitzes, entfernte er sich ohne weiteren Aufenthalt aus der Wohnung, schloß die Thür hinter sich ab, legte den Schlüssel auf's Gesims und betheiligte sich bei den Arbeiten der Gefährten, die von seiner Abwesenheit keine Notiz genommen hatten.

Die Villa war ihm seitdem gleichgültig; er dachte in den folgenden Wochen, die freilich mehr und mehr seine sehr anstrengenden Dienste im Lazareth in Anspruch nahmen, durchaus nicht daran, ihr einen nochmaligen Besuch abzustatten. Aber auch das Bild beschäftigte ihn jetzt, wo es ihm gehörte und immer in seiner Nähe war, wenig mehr, als ein gelesener Brief von Freundeshand. Er betrachtete es wohl, wenn er zufällig die Brieftasche öffnete, und fand das Mädchengesicht noch immer anziehend genug, um sich seines Beutestückes zu freuen, aber es war ihm nun doch geworden, was es wirklich war: ein Bild. Die Person, die es darstellte, trat zurück, beschäftigte seine Phantasie nicht mehr. Sie hatte sich erschöpft und fand kein Material zu weiteren Luftbauten.

Dann erhielt er Ordre, einen Transport Verwundeter bis zur Grenze zu begleiten, und dann wurde er zur Loire-Armee geschickt, um in einem Feldlazareth Hülfe zu leisten. Als er nach länger als zwei Monaten nach seinem alten Stationsort vor Paris zurückkehrte, fand er dort Vieles verändert. Die meisten Bewohner der Ortschaft waren, nachdem der erste Schrecken überwunden war, aus den benachbarten kleinen Städten und Dörfern in die sie sich geflüchtet hatten und die sich nun nicht sicherer erwiesen, in ihre Häuser zurückgekehrt und hatten ihre Geschäfte, so gut es ging, wieder aufgenommen. Man beobachtete sie scharf, um jeden Verkehr mit der belagerten Stadt zu hindern, behandelte sie aber sonst nicht unfreundlich. Viele von ihnen hatten Einquartierung aufnehmen müssen.

Auch Rose erhielt ein Quartierbillet. Als er nun die Chaussee entlang ging, um das ihm angewiesene Haus zu suchen, fiel ihm wieder die Villa in die Augen. Er stellte sich an das Gitter und blickte in das Gärtchen. Die zerbrochenen Fensterscheiben neben dem Portale waren durch neue ergänzt, die Rouleaux zum Theil aufgezogen. Hatte auch Herr Blanchard es für gerathen gehalten, sich in seinem verlassenen Besitzthume wieder einzufinden, oder hatten sich's Andere darin bequem gemacht? Arnold’s Neugierde, sich darüber Gewißheit zu verschaffen, war gewiß berechtigt.

Bald stand er wieder unter dem Portale und zog an dem Klingelgriffe. Nach einer Weile sprang die Thür auf; er trat in den Flur. “Fermez la porte, s’il vous plait,“ rief eine weibliche Stimme von oben herab. Er gehorchte. Wie er die Treppe aufwärts schritt, bemerkte er, daß sich oben eine Gestalt in hellem Kleide über das Geländer beugte. Jetzt fing ihm wieder das Herz an zu schlagen unter dem kleinen Bilde, das er wie eine Bleiplatte auf der Brust fühlte. Wenn sie’s wäre?

Sie war’s nicht. Eine ältere Dame empfing ihn, deren Aehnlichkeit mit der Photographie allerdings unverkennbar war. Das Gesicht schien bleich und verhärmt, und der Blick, mit dem sie den Ankommenden eindringlich musterte, drückte schwerste Besorgniß, wenn nicht Schreck, aus.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 192. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_192.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)