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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

den Kaffee aus dem bunten chinesischen Täßchen beinahe mit so gutem Appetite, wie zu Hause neben seiner Mama und Onkel Helmbach.

Es kam nun auch in mehr und mehr vertraulicher Weise Manches zur Sprache, was die Familie näher anging. Madame Blanchard hatte doch nicht, wie Kruttke meinte, ihre bleiche Gesichtsfarbe nur dem Hunger zu danken gehabt; schwere Sorge um ihren einzigen Sohn Victor bekümmerte sie. Sie wußte, daß er bei Sedan verwundet worden war; dann aber fehlte jede sichere Nachricht über ihn. Der Papa versicherte, daß er sich „mit Löwenmuth geschlagen“ und als „ein Wunder von Tapferkeit“ bewährt habe, und berief sich auf den Bericht des Obersten seines Regiments an einen gemeinsamen Freund; er behauptete, jedes Mal wörtlich zu citiren, und jedes Mal wuchsen die Heldenthaten. Aber lebe er noch? Sei er „in der barbarischen Behandlung der Feinde“ seinen Wunden erlegen? Er habe nicht geschrieben, da er die Eltern wahrscheinlich in dem belagerten Paris glaube, jedenfalls ihren jetzigen Aufenthalt nicht kenne. „Er wird als Gefangener irgendwo in Deutschland zurückgehalten werden,“ suchte Arnold zu beruhigen. „Das hoffe ich,“ sagte Madame Blanchard, eine Thräne aus dem Auge wischend, während ihr Mann hastig schluckte, als ob er eine bittere Pille hinunterwürgen müßte. „Als Gefangener – als Gefangener … In der That, es wäre möglich. Denn, vergessen Sie nicht, er war verwundet.“ Arnold versprach, Nachforschungen nach dem Vermißten anzustellen, und hielt Wort.

So war nun also der junge Krieger mit dem Feldherrnblicke, dessen Bild dort auf dem Schreibtische der Dame vom Hause stand, glücklich untergebracht. Arnold fand sie oft in Betrachtung des Bildes vertieft. Er wagte einmal zu fragen, was der leere Rahmen nebenan bedeute.

„O, mein Herr,“ sagte sie lächelnd, „das ist eine sehr wundersame Geschichte. Sie wissen, daß man unsern Keller erbrochen und beraubt hat – aber das wissen Sie noch nicht, daß der Feind auch unsere Wohnung durchsuchte. Freilich … wir selbst wüßten es nicht, wenn nicht diese kleine Photographie verschwunden wäre. Denken Sie, mein Herr, einzig und allein diese Photographie. Ist das nicht sehr wundersam? Wir hatten so eilig fliehen müssen, um nur unsere Personen in Sicherheit zu bringen, daß wir nicht daran denken konnten, die mancherlei Stücke von theilweise nicht unbeträchtlichem Werthe zu verstecken oder mit uns zu nehmen, die Sie in diesen Zimmern bemerkt haben werden. Wir machten uns darauf gefaßt, nichts oder wenig davon wiederzufinden. Und siehe da! nicht die geringste Kleinigkeit fehlte – bis auf dieses Bild. O, Juliette, der wir davon schrieben, war außer sich darüber. Welche Unverschämtheit, ihr Portrait zu entführen – recht auffällig, nur ihr Portrait! Ja, sie ja ganz ihres Vaters Tochter – eine brave Patriotin!“

Arnold fühlte sein Herz heftiger pochen unter dem Bilde dieser braven Patriotin. Er hätte laut auflachen mögen bei der Erzählung der ahnungslosen Frau, und doch war es ihm wieder, als ob ihm etwas die Kehle zuschnürte, daß er sein Leben lang nicht mehr lachen solle. Juliette hieß das reizende Geschöpfchen also, das ihn schon so viel beschäftigt hatte – der Name gefiel ihm. Er klang so weich, so einschmeichelnd; er stimmte zum Glück gar nicht zu der Schilderung der Frau Mama. Das Eis war gebrochen; er wollte nun das Schifflein seiner Neugierde ganz flott machen.

„Ihr Fräulein Tochter!“ rief er mit gespielter Ueberraschung. „Sie also gehört in diesen leeren Rahmen, über den ich mir schon so viel den Kopf zerbrochen habe. Ich wette, der gute Landsmann, der sie Ihnen entführt hat, wußte, was er that, als er nur Augen für sie hatte. Fräulein Juliette sieht Ihnen ähnlich, Madame, nicht wahr?“

Er erschrak selbst über diese doch zu handgreifliche Schmeichelei, aber Madame Blanchard sah darin durchaus nichts Arges. „Wer mich gekannt hat, als ich noch jung war, behauptet es allerdings,“ antwortete sie mit befriedigtem Lächeln. „Jetzt freilich …“

Arnold hatte nicht weiter schüchterne Zurückhaltung nöthig. „Sie haben sich aber überraschend gut conservirt,“ versicherte er mit der aufrichtigsten Miene von der Welt. „Hätte ich’s nicht aus Ihrem eigenen Munde, daß Sie die Mutter eines Offiziers der französischen Armee sind –“

Madame Blanchard konnte nicht umhin, einen Blick in den Spiegel seitwärts zu werfen. „Ich habe früh geheirathet,“ antwortete sie mit einem leichten Seufzer, „und Juliette ist jünger als ihr Bruder, sehr viel jünger.“

„Sehr viel jünger?“

„Nun – fast acht Jahre. Victor zählt vierundzwanzig.“ Die reizende Juliette war also siebenzehn Jahre alt – eine neue und sehr wichtige Bereicherung seiner Kenntnisse. „Und Sie haben sich von dem jungen Mädchen getrennt?“ fragte er, die Recognoscirung fortsetzend.

„Sehr ungern, mein Herr; aber es war nothwendig. Juliette ist in einer ausgezeichneten Pension erzogen – das Pensionat befindet sich in einem alten Schlosse nicht weit von Orleans und zählt zu seinen Schülerinnen selbst junge Damen von ältestem Adel. Sie hatte ihren Cursus bereits[WS 1] durchgemacht – das fleißige Kind – als der Krieg ausbrach, sind wir nach Hause zurückgekehrt. An ihrem siebenzehnten Geburtstag gerade ließ sie sich photographiren, um uns eine Freude zu bereiten. Es war der letzte glückliche Tag in unserer Familie. Bald darauf begannen die Feindseligkeiten; der Abschied von Victor war sehr traurig für die Mutter und für die Schwester, wenn auch damals unsere zuversichtlichen Hoffnungen … Lassen wir diese Erinnerungen! Unsere Kinder correspondirten eifrig; Juliette nahm den lebhaftesten Antheil an den Operationen. Stundenlang konnte sie vor einer Karte des Kriegsschauplatzes sitzen und mit kleinen Fähnchen die Routen der Gegner abstecken; jeder unserer Verluste erfüllte sie mit größerer Erbitterung – diese leidenschaftliche Natur! Dann kam der Unglückstag von Sedan, dann die Einschließung von Paris. Wir glaubten das junge Mädchen in unserm elterlichen Schutz nicht genug gegen alle Zufälle des Krieges gesichert und schickten sie wieder nach der Pension zurück, so sehr sie sich auch gegen die Trennung sträubte. ‚Ich behalte Dein Bild,‘ sagte ich ihr beim Abschied, ‚und wir werden einander wieder sehen, mein theures Kind.‘ Ach! es war ein böses Omen, mein Herr, als ich in diese verlassene Wohnung eintrat und das Bild nicht wieder fand. Gebe der allmächtige Gott, daß ich Juliette nicht verliere! Seit Wochen sind wir ohne eine Zeile von ihr, da die Postverbindung durch die Preußen gestört ist. Armes Kind!“

Arnold war im Innersten gerührt. Viele, viele Thränen waren sicher seinetwegen geweint; er hatte der Mutter den Trost geraubt, sich an dem Bilde des geliebten Kindes zu erfreuen, das sie in Zeiten der Gefahr von ihrem Herzen hatte lassen müssen. Schon griff seine Hand unter den Rock nach der Brieftasche. „Da ist das Bild,“ konnte er ja sagen, „nimm es – es gehört Dir.“ Aber stärker als das Mitleid war doch wieder ein anderes Gefühl in seiner Brust. Er hätte es Selbstsucht nennen müssen, wenn er ihm einen Namen hätte geben wollen oder können – Abneigung, einen Besitz aufzugeben, an dessen Unzertrennlichkeit er sich nun schon gewöhnt hatte und der ihm unversehens mehr geworden war, als er bei der Aneignung für möglich halten durfte – Eigensinn, eine Beute zu behaupten, an die sich die Erinnerung eines kleinen Abenteuers knüpfte, das noch immer fortwirkte. Sonst nichts? Schwerlich. Er würde sich jedenfalls über den Gedanken, daß ihn die hübsche Französin selbst zu fesseln drohe, sehr aufrichtig ausgelacht haben. Nein! sein Herz durfte er noch für ganz frei halten, denn auch Cousine Clärchen zu Hause, mit der ihn die Commerzienräthin zu necken liebte, weil sie die Partie wünschte, hatte es nicht verwundet – kaum leicht geritzt. Aber wenn er jetzt das Bild hätte abgeben müssen, es würde ihm doch ein Schmerz gewesen sein – wahrhaftig! ein Schmerz, den er schon jetzt in den Fingerspitzen fühlte, als sie die Brieftasche berührten. Er zog eilig die Hand zurück.

In diesem Augenblicke trat Herr Blanchard in’s Zimmer. Er kam von der Straße, grüßte sehr flüchtig, winkte seiner Frau, ihm nach dem Cabinete zu folgen, zog schon unterwegs einen Brief hervor und sprach dann eine Weile leise, aber anscheinend sehr erregt mit ihr. Als sie zurückkehrten, hielt Madame Blanchard ihr Taschentuch vor die nassen Augen, und ihr Mann ging mit großen Schritten im Salon auf und ab, von Zeit zu Zeit sein Kinn in die Hand stützend oder das dünne Haar aus der Stirn streichend.

„Ach, Juliette, unser liebes Kind!“ seufzte die Dame.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: bereis
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_212.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)