Seite:Die Gartenlaube (1875) 251.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Auch dieser Birnbaum ist nunmehr gefallen. Die Hand eines boshaften Bauers, der 1870 mit der Wendung der deutschen Geschicke nicht einverstanden war und den das ewige Gefrage verdroß, soll ihn nächtlicher Weile gefällt haben. Nach anderer Lesart hätten es Sturm und Alter gethan. Da er (obwohl jetzt durch Neupflanzung ersetzt) nicht mehr herzustellen war, wurde mindestens das Holz von deutschfreundlichen Männern erworben, um es als Andenken und Reliquien zu allerlei kleinem Geräthe zu verarbeiten. Der deutsche Kaiser erhielt ein schönes Kästchen daraus; von allen Prophezeiungen, die der Reichenhaller Stadtschreibergehülfe seiner Skriptur beizufügen für gut fand, ist mindestens die Eine eingetroffen, daß der Kaiser, auf dessen Wiedererscheinen wir gewartet, „ein großer alter Mann ist mit großem weißem Barte“.

Aber damit ist die Reihe der Naturmerkwürdigkeiten des Untersberges nicht erschöpft. Zu ihnen gehören noch die Marmorbrüche, welche, König Ludwig dem Ersten gehörend, das meiste Material zu seinen Bauten, insbesondere zur Walhalla und Befreiungshalle, lieferten, sowie die Kolowratshöhle, ein am Hochthrone über der Rosittenalm tief in den Berg eindringendes Eisgewölbe von mehr als hundert Fuß Höhe und bedeutendem Umfange, mit Säulen von den wunderbarsten Gestaltungen und einem Wasserfalle von zwanzig Fuß Höhe, der im Augenblicke des Sturzes zu Eis erstarrt zu sein scheint. Der baierische Finanzminister und Parlamentsabgeordnete Freiherr von Lerchenfeld fand hier vor einigen Jahren durch einen Sturz in die Tiefe seinen Tod.

Manches mag es noch vom Untersberg zu erzählen geben. Als ich einmal auf dem oben erwähnten Wege durch die Schönau in eine weidende Heerde gerieth, welche keinen Durchgang gestatten zu wollen schien, kam mir der Hirt zu Hülfe, ein uraltes, weißbärtiges, eingeschrumpftes Menschenbild, das man ohne großen Aufwand von Phantasie für ein Unterbergszwerglein halten konnte, wäre es nur schwarz gekleidet gewesen. Wir kamen in’s Gespräch und in diesem auf den Untersberg, der breit und majestätisch vor uns lag. Es schien ihm zu gefallen, daß mich der Berg und seine geheimnißvollen Bewohner interessirten. Er ward redselig und vertraute mir, was der Reichenhaller Stadtschreiber zu erzählen wisse, das sei gar nicht zu beachten. Sein Großvater sei selbst im Untersberge gewesen und habe Alles, was er dort gesehen, dem Schullehrer in die Feder gesagt. „Die Geschrift hab’ ich noch, wenn’s nicht etwa die Kinder verrissen haben,“ fuhr er fort, „sie liegt daheim, in Reichenhall, wo’s gegen Non hinaufgeht, denn da bin ich nur als Hüter in der Kost. Ich will sie Dir geben, Herr, wenn Du wieder des Weges kommst, darfst nur da drunten in dem Bauernhaus nach dem Noner Kaspar fragen. …“

Ein Jahr verging, bis ich wieder des Weges kam; ich erinnerte mich des Gesprächs und schlug den Pfad zu dem kleinen Hause ein, an dessen offenem Fenster die Bäuerin mich mit einer Miene voll Erwartung empfing, was mich wohl so abseits zu ihr führen möge.

Ein Lächeln gutmüthigen Spotts zuckte über ihr Gesicht, als meine Frage ihr den Grund bekannt gegeben.

„Den Noner Kaspar wollt’s aufsuchen, Herr?“ sagte sie. „Der ist nimmer da – der hat’s schon im letzten Herbst gar gemacht, wie das Laub gefallen ist. …“

Ich fragte nach der verheißenen Handschrift, und das Lächeln der Bäuerin verstärkte sich.

„Ha, das sind sched (nur) so Narretheien,“ sagte sie, „der alte Mensch hat lauter solche Mucken im Kopf gehabt: es ist diem’ (diemalen, manchmal) nicht recht richtig gewesen bei ihm. …“

Sie deutete nach der Stirn und sah bedenklich nach der meinigen; ich sagte guten Abend und ging. Durch das Waldgrün des Untersbergs leuchtete der Marmor im Abendroth wie ein Freudenfeuer, daß es ihm noch einmal gelungen, seine Geheimnisse verborgen zu halten vor der Neugier der Menschen.

Herman Schmid.




Epische Briefe.
Von Wilhelm Jordan.
VII. Die Kunstgeheimnisse Homer’s.


Die Vorgeschichte der homerischen Epen haben wir schon früher betrachtet als bestes Beispiel zur Erkenntniß der Bedingungen und des Wesens des Epos überhaupt. Hier will ich nur Eines noch aufschließen: wie Homer hingelangt ist zur Erfindung seiner Kunst und was in ihr die Neuerung ist, mit welcher dieser Genius aller darstellenden Poesie für alle Zeit das Grundgesetz vorgeschrieben hat.

Ich darf aber nicht reden von Homer’s Erfindung, ohne zuvor Einspruch zu erheben gegen die Vorstellung, welche man mit diesem Worte gewöhnlich verbindet.

Unser Jahrhundert liebt man vorzugsweise das der Erfindungen zu nennen. Oft genug hören wir Proben von einem gewissen Uebermuth des auf seine Erfindungen stolzen Menschengeistes. Aber bei richtiger Betrachtung können wir kaum klein genug denken von der Erfindungsgabe des Individuums. Streng genommen, hat ein einzelner Mensch noch niemals etwas erfunden. Die sogenannten Erfinder sind stets in die Lage gekommen, eine winzig kleine Zuthat beifügen zu müssen zur uralten Erbschaft vieler Generationen.

Aus Luft und Erdenstoffen baut sich die Pflanze empor, gemäß der Urform ihres Keimes im Samen. Wann das Wachsthum seine Höhe, die Zufuhr der Säfte und Baustoffe ihre Fülle erreicht hat, dann verwandelt sich, durch Zusammenschiebung der um den Stengel emporgewundenen Wendeltreppe von Achsenaustritten in Eine Ebene, die gewöhnliche Blätterbildung in die Bildung der Knospen und Blüthen, deren sich meistens mehrere zugleich entwickeln. Gerade so summiren sich die Erzeugnisse der Thätigkeit Vieler und langer Zeiträume in der Arbeit Einzelner und gewinnen durch mehrfache Verbindung alten Besitzes eine scheinbar neue Gestalt. Rückwärts blickend sind wir mehr geneigt, darüber zu staunen, daß eine Erfindung nicht schon weit früher gemacht wurde.

Schon Seneca kannte die vergrößernde Wirkung eines wassergefüllten Glascylinders, der kleine Buchstaben groß erscheinen lasse. Schon in den „Wolken“ des Aristophanes wird des Brennglases Erwähnung gethan. Die Feinheit des Schnitts antiker Gemmen ist erst begreiflich geworden, seit man in Pompeji Lupen von klarem Bernstein gefunden hat. Aber weit über ein Jahrtausend verging, ehe man durch dieses bekannte Mittel den gewöhnlichen Schwächen des Auges abzuhelfen lernte. Dann hatte man lange Jahre hohle und erhabene Brillengläser geschliffen. Erst als diese Kunst sich handwerksmäßig ausgebreitet hatte und der Versuch, auch einmal durch ein concaves und ein convexes zugleich durchzusehen, gar nicht ausbleiben konnte, wurde, gleichzeitig und unabhängig von mehreren, das Fernrohr erfunden. Jeder vornehme Römer trug einen Siegelring und druckte damit, nicht nur Bilder, sondern auch Schriftzüge in Siegelwachs, wie es die Aegypter schon anderthalb Jahrtausende früher gethan. Ja, die römischen Kaiser besaßen Stempel, mit denen sie ihre Namen unter Decrete druckten. Cicero spricht ahnungslos die ganze Theorie der Lettern aus, indem er vom Redner sagt, daß er, im Besitze aller Regeln, doch ebenso wenig schon die ganze Redekunst innehabe, wie Jemand den Homer besitzen würde, wenn er sämmtliche Buchstaben, die in Homer’s Dichtungen vorkommen, etwa von Metall verfertigt, in einem Haufen vor sich liegen hätte. Zwischen Cicero und Guttenberg sind aber fünfundvierzig Generationen über die Erde gegangen. Bücher zu drucken verstand man schon vor Guttenberg. Man schnitt eine ganze Seite in Holz. Wie dicht also war man daran, eine solche Seite in ihre Buchstaben zu zerschneiden, um jeden mehrmals gebrauchen zu können! Aber Jahrzehnte mindestens hat man vor dieser Thür gestanden, ohne sie zu sehen. Als endlich der Schlüssel gefunden ward, da hatten wieder mehrere gleichzeitig denselben Fund gethan. Die Erfindung war eben reif. Ungezählte Jahrtausende weit ist der Weg vom runden Baumstamm, den man einer Last als Walze unterlegte, bis zum

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_251.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)