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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

sich die Stärke ihrer Neigung bewähren. Juliette wagte aber nicht, sich zu binden, sie hielt jede Bemühung seinerseits für hoffnungslos. Das drückte seine Stimmung nieder, während er nun langsam dem Portale zuschritt, oft stehenbleibend und überlegend, was am rathsamsten zu thun sei. Es war da eigentlich gar nichts zu überlegen: zurück durfte er auf keinen Fall. Die Zaghaftigkeit suchte nur nach Gründen, eine Entscheidung hinzuhalten, die ihn sehr schmerzlich berühren konnte. Aber vorstellen mußte er sich seinen alten Quartiergebern doch. Er zog, unwillig über seine Unentschlossenheit, mit einem kräftigen Rucke an der Glocke – sie wollte wieder gar nicht aufhören, zu läuten, wie in jener Nacht im verlassenen Hause.

Er schickte seine Karte hinein. Madame Blanchard empfing ihn nicht unfreundlich im Salon, der eine neue Ausstattung von Teppichen, Decken und Vorhängen erhalten hatte. Sie fand es ganz natürlich, daß er, wenn er Geschäfte halber nach Paris kam, einen Besuch in ihrem Hause nicht versäumte, und glaubte sich’s nicht erst bestätigen lassen zu dürfen, daß er Geschäfte halber komme. Man habe noch oft an ihn gedacht, versicherte sie, und werde ihm auch ferner ein gutes Andenken bewahren. Das Gespräch wurde eine Weile in jenem heitern Gesellschaftstone weitergeführt, der so bequem über alle Unebenheiten der Situation hinweghilft, indem er sie mit höflichen Redensarten ausfüllt. Arnold, der sich auf eine sehr kühle und gemessene Aufnahme gefaßt gemacht hatte, war sehr geneigt, dieses freundliche Sichgehenlassen zu überschätzen, und kam bald in die beste Laune, indem er die kleinen häuslichen Ereignisse des vorigen Jahres humoristisch beleuchtete. Man scherzte und lachte und hätte in derselben Weise auch noch Stunden lang scherzen und lachen können, ohne einander näher zu kommen.

Herr Blanchard, hieß es, mache noch Toilette. Er brauchte viel Zeit dazu, und als er dann endlich, auf einen Stock gestützt, erschien, war Arnold nicht wenig erschreckt über sein leidendes Aussehen. Seine Magerkeit hatte noch zugenommen; Rock und Weste hingen lose von seinen Schultern herab wie von einem Knochengerüste. Die Haut auf den eingefallenen Backen war lederfarben; die linke Seite des Gesichts zeigte deutliche Spuren einer nicht gründlich gehobenen Lähmung, und beim Gehen schleppte auch der linke Fuß ein wenig nach. Arnold eilte ihm entgegen und reichte ihm zum Gruße beide Hände hin. Der Franzose berührte aber nur die eine mit den Fingerspitzen und winkte wieder auf den Platz zurück. Seine Frau schob ihm einen Sessel hin; er stützte sich auf die Lehne desselben und steckte die Hand in die Weste. Arnold war auf eine politische Standrede gefaßt.

„Sie kommen, die Physiognomie eines Landes zu studiren, mein Herr,“ begann er nach kurzem Räuspern, „das einen unglücklichen Krieg durchgemacht hat. Sie werden wenig finden, was Sie daran erinnert; nur das Frankreich, das sich selbst zerfleischte, zeigt dem Fremden noch überall seine klaffenden Wunden. Aber auch sie werden sich schließen, schneller als unsere Feinde wünschen. Die ungeheuren Opfer – Opfer – Opfer …“ Er verlor mitten im Pathos der Rede, auf die er sich wahrscheinlich beim Ankleiden vorbereitet hatte, den Faden, wiederholte sich, stieß mit der Zunge an und suchte mit den Augen bei seiner Frau Hülfe.

„Du hast Recht,“ sagte sie, „die Opfer, die man Frankreich zumuthete, waren ungeheuer.“

Er schüttelte unwillig den Kopf. „Sie wiegen zu leicht, wenn man drüben geglaubt hat, uns zu Grunde – uns zu Grunde zu richten. Frankreich besitzt eine Lebenskraft … Sehen Sie mich an! Ich bin Frankreich –“ seine Hand zitterte auf dem Stocke, während er sich aufrichtete, um sich eine imposante Haltung zu geben – „ich bin Frankreich. Der Krieg hat mich um ein Vermögen gebracht, das die Arbeit vieler Jahre repräsentirte – und heute blüht mein Geschäft wieder; eine schwere Krankheit warf mich auf’s Lager, und heute sehen Sie mich wieder frisch und kräftig … frisch und – frisch …“ Sein Blick wurde wieder flimmernd und irrend.

„Du solltest Dich nicht aufregen, lieber Charles,“ mahnte seine gute Frau, indem sie ihn unter den Arm faßte und sanft auf den Sessel niederdrückte. „Herr Rose hat sich uns immer als ein Mann ohne Vorurtheil bewiesen; er zweifelt gewiß keinen Augenblick –“

„Daß Frankreich mit bewunderungswürdigem Muthe und mit scheinbar unerschöpflichen Kräften an seiner Wiederherstellung arbeitet,“ fiel Arnold ein.

Herr Blanchard nickte mit wohlgefälligem Lächeln. „Einen Riesen mag man um einen Fuß kürzen,“ sagte er, „und er bleibt doch ein – bleibt doch ein – ein …“

„Riese,“ ergänzte der junge Mann. „Wir in Deutschland wissen das.“

Wieder ein gnädiges Nicken. „Wissen Sie das? Gut! das ist gut. Man hat drüben allen Grund bescheiden zu sein.“

„Bescheiden im Glück, stolz im Unglück,“ bemerkte Arnold, „so wünsche ich mir meine Freunde.“

„Stolz zu sein werden die Deutschen nie lernen, auch nicht im Unglück,“ entgegnete der Kaufmann mit einem Blick von oben her. „Eine Nation von – von – von …“

„Von Philosophen,“ half Madame.

„Das meinte ich nicht. Von … Gut! es kommt nicht darauf an. Was führt Sie her, mein Herr? – wenn die Frage nicht indiscret ist.“

Arnold überlegte einen Moment. „Ich komme, mir in Frankreich eine Frau zu suchen,“ sagte er dann möglichst leichthin.

„Ah!“ rief Herr Blanchard und warf den Kopf zurück, was wahrscheinlich bedeuten sollte: darauf zu antworten wäre Thorheit. Ein moquantes Lächeln konnte diese Annahme fast zur Gewißheit machen.

Madame Blanchard schenkte seiner sonderbaren Behauptung doch mehr Aufmerksamkeit. „Sie scherzen,“ äußerte sie kopfschüttelnd und sah ihn doch dabei so prüfend an, als habe sie geheime Zweifel an ihrem eigenen Unglauben.

„Ich scherze durchaus nicht,“ versicherte Arnold lebhaft, aber doch noch mit einer Art humoristischer Reserve, um nöthigenfalls den Rückzug offen zu lassen. „Ich habe im vorigen Jahre eine sehr liebenswürdige junge Dame kennen gelernt, die zu besitzen mir ein großes Glück bedeuten würde. Ich glaube zu wissen, daß mir die junge Dame auch ein wenig geneigt ist, und wenn sie den Muth haben sollte, dies einzugestehen –“

„Aber die Eltern?“ fiel Madame Blanchard. offenbar beunruhigt, ein. „Können Sie es für denkbar halten, daß die Eltern –“

„Ah!“ rief der Hausherr wieder dazwischen, und sein kleiner Kopf rückte noch einen halben Zoll aus der Binde. Der Laut klang diesmal verweisend, als wolle er sagen: warum über dergleichen Unsinn noch ein Wort verlieren? Sein Gesicht drückte Aerger aus. Die Frau nahm seine Hand und streichelte sie.

Der Gast stand auf. „Ich hoffe,“ sagte er, „daß auch in Frankreich noch das Recht der Liebe über allen Rechten ist. Eine so hochherzige Nation sollte in keinem ihrer Glieder so kleinlich denken, es denen verkümmern zu wollen, die glücklich sein können.“ Er sprach diese Worte ganz ernst und so nachdrücklich, daß eine Beziehung kaum zu verkennen war. Madame Blanchard schien sie auch zu verstehen; sie senkte die Augen und zog die Unterlippe ein wenig zwischen die Zähne. Ihr Mann, der sich mit Hülfe des Stockes zitternd erhoben hatte, sah ihn dagegen groß an, als erwartete er eine Erklärung zu dieser dunkeln Rede. Arnold gab sie nicht. „Ich habe meinen alten Onkel mitgebracht,“ sagte er, sich verabschiedend, „denselben, der Ihnen aus Victor’s Briefen bekannt sein wird. Darf ich mir die Ehre geben, ihn morgen vorzustellen?“

„O – wir bitten sehr,“ antwortete die Hausfrau für ihren Mann, der sich in diese neueste Neuigkeit nicht sogleich schien finden zu können.

„Er hat nur eine einzige Untugend,“ bemerkte Arnold schon an der Thür mit schalkhaftem Lächeln, „aber freilich eine große, fast unverzeihliche: er spricht nicht Französisch. Darüber wird er sicher morgen die tiefste Reue empfinden, wenn er sich um das Vergnügen gebracht sieht, Ihnen alle die Artigkeiten zu sagen, zu denen ihn sein Herz drängt. Nehmen Sie gütigst mich zum Dolmetscher an!“

Madame Blanchard war nicht undankbar für diese höfliche Schlußwendung: sie reichte ihm zum Abschied huldvoll die Hand und gestattete einen Kuß auf dieselbe. –

Als Arnold, ganz vertieft in Gedanken über das so eben Erlebte, sich dem Gasthause näherte, fand er eine beträchtliche Menschenmenge vor demselben und als er eingetreten war, den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_294.jpg&oldid=- (Version vom 3.8.2020)