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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Herr A. W. Carstenn hatte sich als Bauspeculant schon in Hamburg und Umgegend versucht, und ließ sich nach 1866 in Lichterfelde bei Berlin nieder. Er war ein Mann von Scharfblick und Combination; er witterte, daß die Hauptstadt des Norddeutschen Bundes wachsen und sich ausdehnen müsse; er begann rings um Berlin zu colonisiren und trieb die Baustellen-Ausschlächterei und den Baustellen-Handel en gros. Bei diesem Geschäft gewann er Millionen, und mit den Millionen überfiel ihn ein anderes Gelüste. Er hatte mit Generalen und Baronen gegründet, und der Umgang mit der Aristokratie ist verführerisch. Er hatte sich die Regierung durch den Bau der neuen Cadettenhäuser bei Lichterfelde verpflichtet, und so konnte es ihm nicht fehlen. Eines Abends ging er noch als A. W. Carstenn zu Bette, und am Morgen stand er auf als – Herr von Carstenn-Lichterfelde. Im Alterthum wurden die Gründer – siehe: Herakles, Kekrops, Theseus, Kadmos – unter die Götter versetzt; heute werden sie – siehe: Bleichröder, Hansemann, F. W. Krause, A. W. Carstenn – in den Adelstand erhoben. Andere Gründer, welche dies nicht durchsetzen konnten, machten aus der Noth eine Tugend und kauften sich – einen adligen Vater. Sie suchten und fanden einen freidenkenden, aber armen Edelmann, der sie, gewöhnlich gegen Zahlung einer mäßigen Jahresrente, adoptirte, ihnen seinen Namen verlieh. Auch dieser Talmi-Adel wird von der Gesellschaft respectirt und bewundert.

Von der riesigen „Kaiserstraße“ des Herrn von Carstenn geht’s über oder um Charlottenburg nach dem lustigen Plateau „Westend“, zu Herrn Heinrich Quistorp. „Westend“, eine künstliche, unwirthliche Schöpfung, war der „erste Versuch“ Quistorp’s, mit dem er im Jahre 1868 debütirte, aber ziemlich abfiel. Erst in der Schwindelperiode konnten Beide durchschlagen. Herr Quistorp vertheilte pro 1871 plötzlich 16 Procent Dividende, und vermehrte das Actiencapital, das bis dahin, wenn wir nicht irren, nur 100,000 Thlr. betrug, mit einem Schlage um 1,100,000 Thlr. Die neuen Actien wurden zu dem bescheidenen Course von 150(!) ausgegeben und dann bis auf circa 225 hinaufgetrieben. Von Herrn von Schäfer-Voit ward ein großes „Bauterrain“ von 450 Morgen zugekauft und „Neu-Westend“ benannt, sowie das am Spandauer Bock belegene „Schloß Ruhwald nebst Park“. Herr Quistorp, der sich mit einem Stabe von Literaten, „Volkswirthen“ und Naturwissenschaftern umgab, ließ durch diese Herren „Westend“ als die natürlichste, gesündeste und anmuthigste Colonie von der Welt anpreisen. „Schloß Ruhwald“ ward bereits als die künftige Residenz eines preußischen Prinzen bezeichnet, und von diesem Schlosse bis zum Schlosse in Berlin eine fortlaufende Straße in Aussicht gestellt – „die schönste und einzig große Avenue“, gegen welche die Kaiserstraße des Herrn von Carstenn ein bloßes Kind blieb, denn die Entfernung beträgt gut fünf Viertel Meilen.

Ungleich manchem Gründer, der mit der Grammatik auf gespanntem Fuße lebt, schreibt Herr Quistorp einen „gebildeten Stil“; ist er ein pompöser Schriftsteller. Wie Napoleon Bonaparte, mit dem wir ihn schon früher in Parallele stellten, veröffentlichte auch Heinrich Quistorp über seine Thaten und Erfolge regelmäßige Bülletins, die als charakteristische Beiträge zur Zeitgeschichte wohl verdienten gesammelt zu werden. Vor uns liegt der Jahresbericht vom 14. Januar 1873, in welchem Herr Quistorp den Actionären von „Westend“ – neun Monate vor dem Concurse der Gesellschaft – noch goldene Berge verspricht. Fast noch interessanter ist die Bilanz pro 1872, die der „Aufsichtsrath“, unterzeichnet von den Regierungsräthen a. D. A. Bühling und W. Jungermann und Kaufmann A. Reinicke, publicirt. Nach dieser Aufstellung erhielten die Actionäre 17 Procent Dividende oder zusammen 204,000 Thaler, der „Aufsichtsrath“ 15 Procent Tantième oder 43,200 Thaler – ein hübsches Douceur für eine nur nominelle Mühewaltung, die beiden Gesellschafter Quistorp und Scheibler gleichfalls 15 Procent Tantième oder 43,200 Thaler. Außerdem aber hat sich der „erste Gesellschafter“ (Quistorp) an „Provisionen“ für Verkäufe von Bauparcellen noch 33,786 Thaler berechnet. Man sieht also: Aufsichtsrath und Gesellschafter beanspruchten circa zwei Fünftel des Reingewinns, während auf die Gesammtheit der Actionäre wenig mehr als drei Fünftel entfiel, und Quistorp allein bezog ein Sechstel des Ganzen, in einem Jahre von einer einzigen Gesellschaft über 55,000 Thaler.

Aber der geniale Gründer hatte an „Westend“ nicht genug – er schuf noch eine zweite „Baugesellschaft“. Unmittelbar nachdem Herr Quistorp das Capital von „Westend“ um 1,100,000 Thaler vermehrt hatte, gründete er den „Deutschen Centralbauverein“, für den er gleichfalls eine Actiensumme von 1,200,000 Thaler in Anspruch nahm. Dieser war ehemals eine „Genossenschaft“ gewesen, aber, wie Quistorp im „Prospecte“ sich ausdrückte, das „Experiment eines humanen Princips“ geblieben und wurde nun in eine Actiengesellschaft umgewandelt. Der „Deutsche Centralbauverein“ sollte nicht Villen, sondern kleine und mittlere Wohnungen bauen und außerdem einem schreienden Bedürfnisse abhelfen, nämlich „die baulichen Ausführungen der Westend-Gesellschaft gegen eine der Sache entsprechende Provision mitleiten“, während die Westend-Gesellschaft wieder seine, des „Deutschen Centralbauvereins“ Bauterrains „commissionsweise parcelliren und von den ihm übertragenen Bauten eine entsprechende Rückprovision beziehen“ sollte. Man merkt, wie erfinderisch Herr Quistorp war, um den eigentlichen Zweck seiner Gründungen festzustellen, und wie innig er die verschiedenen Gesellschaften miteinander verknotete – eine Verknotung, die später immer eine nach der anderen in den Concurs riß und ein Monstreverfahren herbeiführte, bei dem sowohl dem Concursrichter wie dem Massenverwalter seit Jahr und Tag die Haare zu Berge stehen. Bei beiden Baugesellschaften hatte Quistorp dieselben Verbündeten und Gehülfen: außer den schon Genannten noch die Herren Stadtrath Holtz, Apotheker H. Augustin, Dr. med. E. Wiß und Andere. Der „Volkswirth“ Wiß hatte kurz vorher im Feuilleton der „National-Zeitung“ einen Bandwurm von Artikel über Wohnungsnoth, Wohnungsreform etc. losgelassen, die alle in dem Satze gipfelten: das einzige Rettungsmittel sei die Colonisation. Zum Dank für diese Reclame machte ihn Quistorp zum „Vorsitzenden des Aufsichtsraths“, und nun ging der „Deutsche Centralbauverein“ in’s Zeug mit Ankäufen, Parcellirungen und Bauausführungen. Das erste Geschäftsjahr schloß am 1. Juli 1873 mit einer Dividende von 15 Procent, aber nur 10 Procent kamen zur Auszahlung, während „Aufsichtsrath“ und „Direction“ das Ihrige natürlich voll eingestrichen haben werden. Im Juli 1873, mitten im „Krach“, rückte Herr Quistorp noch mit dem Antrage heraus, „das Actiencapital successive auf vier Millionen Thaler zu erhöhen“, was auch beschlossen wurde. Aber es blieb beim Beschlusse. Schon nach drei Monaten brach der „Deutsche Centralbauverein“ zusammen, mit einer Million Unterbilanz. Die Grundstücke, welche mit mehreren Millionen zu Buch standen, sind bei der gerichtlichen Taxe auf ein Fünftel oder noch tiefer herabgesetzt. Die Masse wird kaum die Schulden decken – über zwei und eine halbe Million Thaler; die Actionäre haben Alles verloren.

Doch Herr Quistorp ist nicht außer Fassung zu setzen. Mitten im Concurse gründete er kürzlich eine neue Gesellschaft: „Westend-Berlin“. Wieder eine Illustration zum Actiengesetze! Inzwischen arbeitete er auf einen Accord hin und gewann dafür die Mehrzahl der Gläubiger. Allein das Gericht verweigerte die Bestätigung des Accords – ein Fall, der sich höchst selten ereignet. Der Gerichtshof versagte die Bestätigung wegen der eigenthümlichen Manipulationen des Gemeinschuldners. Herr Quistorp hatte z. B. Grundstücke erstanden und sie zunächst der „Westend-Gesellschaft“ und dann wieder, Namens dieser, dem „Deutschen Centralbauverein“ verkauft, jedesmal natürlich zu höherem Preise. Der Accord ist nicht genehmigt, aber Herr Quistorp wird die höheren Instanzen anrufen, und vielleicht hat dieser Mann seine Rolle noch lange nicht ausgespielt.

Unter dem Aushängeschilde, zu colonisiren, für die unteren und mittleren Stände billige Wohnungen herstellen zu wollen etablirten sich noch zahlreiche Baugesellschaften, von denen wir einige hier folgen lassen:

Mittelwohnungen, bei Weißensee, eine halbe Meile vor dem Thore; gegründet von A. Busse u. Comp. Aufsichtsräthe: Geh. Admiralitätsrath Dr. Gäbler, Fabrikbesitzer G. Schöpplenberg etc. Pro 1873 ward auf gebaute, aber noch nicht verkaufte Häuser eine künstliche Dividende von 2 Procent vertheilt. Pro 1874 nichts. Ein großer Theil der Wohnungen ist unvermiethet geblieben. Die mit 80 Thaler eingezahlte Actie gilt etwa 10.

Johannisthal, eine Meile vor der Stadt, gegründet von der Norddeutschen Grundcreditbank, Geh. Admiralitätsrath Dr. Gäbler etc. Vorstand: Baumeister Jonas. Vertheilte pro 1873 eine Dividende von 5 Procent. Die mit 102½ aufgelegten Actien sollen sich größtentheils noch in erster Hand befinden und werden heute mit circa 10 notirt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 439. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_439.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)