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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Grenzen der Schweiz?“ fragte ich weiter, um mich vollständig über diese Einrichtung zu unterrichten.

„Die drei untersten Sectionen,“ versetzte der Lehrer, „bewegen sich aus zeitlichen und finanziellen Gründen selbstverständlich innerhalb des vaterländischen Gebiets; die oberste jedoch dehnt ihre Routen öfters nach Savoyen und Oberitalien oder auch nach Tirol aus, ohne dabei die Hauptaufgabe, möglichst allseitige und ausgedehnte Kenntniß des Vaterlandes, aus dem Auge zu verlieren.“

„Wollten Sie mir nicht in wenigen Linien einen Reiseplan der beiden obersten Sectionen zeichnen, damit ich eine Vorstellung von dem erhalte, was sich mit demselben erreichen läßt?“

Auf einen Wink des Lehrers berichtete einer der Schüler über eine sechstägige Reise, die er mitgemacht: „Am ersten Tage brachte uns die Eisenbahn von Bern nach Luzern, das Dampfboot nach Weggis, unsere Beine auf den Rigi und über Rigischeidegg wieder hinab nach Gersau; am zweiten Tage marschirten wir nach Brunnen, über die Axenstraße nach Flüelen und weiter über Altorf und Amstäg nach Bristen, wo wir übernachteten; am dritten Tage stiegen wir über den Kreuzlipaß nach Sedrun im Vorderrheinthal und am vierten über den Oberalppaß nach Andermatt an der Gotthardstraße und von da, nach Besichtigung des Urnerloches und der Teufelsbrücke über die Furka bis zum Rhonegletscher; der fünfte Tag führte uns über die Grimsel an den Handeckfall und nach Meyringen, und der letzte brachte uns über Brienz und Interlaken fröhlich nach Bern zurück.“

Ein anderer Schüler löste den Berichterstatter ab und gab die Umrisse einer vierzehntägigen Reise: „Am ersten Reisetage fuhren wir von Brienz, wohin wir der Zeitersparniß wegen schon am Vorabend gefahren waren, nach Meyringen; dann gingen wir in’s Gadmenthal bis Mühlestalden, von wo wir die unteren Absätze des Triftgletschers und die Felsen der Windegg gewannen, und da es nicht möglich wurde, noch am gleichen Tage die Alpenclubhütte am Thältistock zu erreichen, so gingen wir über den Gletscher hinüber, um in der verfallenen Schafhütte zum Graggi ein nothdürftiges Nachtlager zu finden. Am zweiten Tage wurde die erwähnte Alpenclubhütte erreicht, wo man den Rest des Tages zubrachte, um am folgenden Tage Morgens zwei Uhr aufzubrechen und über den Triftgletscher, die Triftlimmi und den Rhonegletscher auf die Furka, und von da nach Realp zu gelangen. Der vierte Tag brachte uns über den St. Gotthard nach Airolo, der fünfte über den Sasellopaß in das malerische Maggiathal bis Bignasco, der sechste von da nach Locarno. Die beiden folgenden Tage wurden dem Besuche von Luino, Lugano, Capolago, der Besteigung des Monte Generoso, dem Marsche nach Como und einer Dampfschifffahrt über die ganze Länge des Comersees bis Colico gewidmet. Mit dem neunten Tage begann die Heimreise, welche uns zunächst nach Chiavenna und Splügen und am folgenden Tage über den Valserberg in’s Valserthal und nach Ilanz brachte. Der elfte Tag war ein Ruhetag, und da die ungünstig gewordene Witterung den beabsichtigten Gletscherübergang in’s Maderanerthal verbot, so ging man an diesem Tage, größtentheils unter strömendem Regen, von Ilanz nach Dissentis. Mit dem zwölften Tage wurde der Oberalppaß überschritten und Wasen an der Gotthardstraße erreicht. Der dreizehnte Tag führte unsere Gesellschaft über den Sustenpaß nach Gadmen und der vierzehnte auf dem vielbetretenen Wege über Meyringen und Brienz nach Hause. Die während dieser Reise zu Fuße zurückgelegten Entfernungen betrugen etwa hundertfünf Schweizerstunden, die Summe aller Steigungen erreichte in runder Zahl vierzigtausend Schweizerfuß. – Uebrigens enthält unser Schulprogramm alljährlich vier solcher Reiseskizzen.“

Ich dankte für die erhaltenen Aufschlüsse, und nach Besichtigung des obst- und kirchenreichen Trient verabschiedeten wir uns, die muntere Gesellschaft, um den Marsch in’s Val Sugana anzutreten, ich, um mich dem Gardasee zuzuwenden. –

Etwa drei Wochen später hatte ich die Freude, die Leutchen in dem weltbesuchten Bödeli von Interlaken wieder zu sehen, von der italienischen Sonne noch dunkler „angeraucht“ und in ihrem äußern Habitus noch verwitterter, als bei unserer ersten Begegnung in Meran, aber frisch und munter bis zur Ausgelassenheit im Gefühl, ein tüchtiges Stück Arbeit glücklich überwunden, manches Schöne gesehen, manches Ersprießliche durch Anschauung gelernt zu haben, und wohl auch in der Aussicht, die Ihrigen bald wieder zu sehen. Lehrer und Schüler gestanden mir, daß Venedig, Padua, Vicenza, Verona ihnen fast zu einem Capua geworden wären und daß es einer kräftigen Aufraffung bedurft habe, um sich wieder an lange, staubige Märsche und an einfachere Lebensweise zu gewöhnen. Sie hatten den Comersee besucht, waren von da an den Luganersee marschirt und über den Gotthard und den Sustenpaß in den Canton Bern zurückgekehrt.

Ich hatte inzwischen theils durch mündliche Aufschlüsse, theils durch eigenen Augenschein erfahren, daß diese Schülerreisen, wenn auch nicht überall in so ausgedehnter Weise, wie in Bern, fast allenthalben in der Schweiz eingebürgert sind. Zumal im Berner Oberlande und an den classischen Stellen am Vierwaldstättersee begegnet der Tourist im Juni und Juli fast alltäglich „fahrenden“ Schulen aller Stufen, Primarschulen und Secundarschulen, Gymnasiasten und Seminaristen, gemischten Schulen und Töchterschulen, alle leuchtenden Auges und voll des Glücks, ihr schönes Vaterland mit eigenen Augen kennen lernen zu können. In den größeren Städten aber, vor allen in Bern sieht man im Sommer sehr häufig mit Blumen und Laubwerk geschmückte Leiterwagen, welche eine fröhliche, wißbegierige Kinderschaar vom Lande in die Stadt gebracht haben, deren Straßen die Kleinen mit weitgeöffneten, verwunderten Augen durchziehen und deren lehrreiche Museen und sonstige Schätze sie staunend und lernend besichtigen. Fast überall in der Schweiz sind diese fahrenden Schüler gerngesehene Gäste. Eisenbahnen und Dampfboote gewähren meist besondere Vergünstigungen. Gastwirthe fühlen „ein menschliches Rühren“ und setzen möglichst billige Preise an, kurz, allenthalben begünstigt man nach Kräften die jugendlichen, lernbegierigen Reisegesellschaften.

Den vielseitigen Nutzen dieser praktischen Vaterlands- und Weltkunde erst noch zu beweisen, ist völlig überflüssig; ihn anzweifeln zu wollen hieße den Nutzen der Anschauung, der selbsteigenen Erfahrung, des Reisens überhaupt anzweifeln. Warum aber kommt diese zweckmäßige Methode, Vaterlandskunde in die Köpfe zu prägen und Valerlandsliebe in die Herzen zu pflanzen, in Deutschland noch so selten, oder doch bei Weitem nicht ebenso allgemein in Anwendung, wie in der Schweiz? in Deutschland, wo man doch für die Schule an manchen Orten so große Opfer bringt und wo namentlich die Erziehung zum Patriotismus, früher so lange verpönt und selbst verfolgt, einen so kräftigen Aufschwung genommen hat? Mag die Natur hier immerhin weniger großartig sein, als im schweizerischen Alpenlande: auch Deutschland, vorab Süd- und Mitteldeutschland, und selbst der Norden bietet landschaftliche Schönheiten in reicher Fülle, übergenug, um die Herzen der Jugend zu entzücken und mit Liebe zum Heimathboden zu erfüllen, und wo der Reiz der Landschaft fehlen sollte da bieten die reichen Schätze der Industrie und der Kunst, die ehrwürdigen Stätten der Geschichte und der Sage eine nie versiechende Quelle der Belehrung und der Begeisterung. Ich wüßte kaum eine Gegend meines Vaterlandes, wohin man die wißbegierige Jugend ohne Vortheile für Kopf und Herz führen könnte. Ueberdies genießt Deutschland in dieser Hinsicht vor der Schweiz einen nicht geringen Vortheil in seinen zahlreichen Staatsbahnen, welche die Schulreisen leichter und noch ausgiebiger begünstigen können, als dies bei den kostspieligen Privatbahnen der Schweiz möglich ist, und Behörden und Privatpersonen, die in der Sache wirken können, werden gewiß ebenso willig, wie in der Schweiz, diesen fruchtbaren Zweig der Jugendbildung fördern helfen. Hierzu anzuregen war der Zweck dieser Zeilen, und wenn dieselben hier und da im Vaterlande Erfolg haben, so wird den Verfasser das angenehme Gefühl lohnen, ein wahrhaft gutes Werk veranlaßt zu haben.

F. E.



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 510. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_510.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)