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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


der Hochzeitlader, den die kleine Erzählung noch immer begieriger gemacht hatte. „Wie sie daher gekommen sind und wo Deine Mutter eigentlich daheim gewesen ist? Wie hat sie denn geheißen?“

„Genau weiß ich’s nicht,“ erwiderte Julei, „wenn Ihr’s aber wissen wollt, kann ich’s Euch wohl zeigen; ich habe den Taufschein und den Trauschein meiner Mutter. Ich kann mir nur die Namen so hart merken; sie lauten so sonderbar. Meine Mutter ist weit weg zu Haus’ gewesen, da wo’s in’s Rußland hinein geht.“

„In Polen!“ rief der Alte, der sich vor Erregung kaum zu halten vermochte, denn mit einem Male lag eine Gegend seines Lebens vor ihm, die lange verwachsen und übergrast war in seiner Erinnerung, nun aber plötzlich vor ihm lag wie ein Land, von dem über Nacht der Schnee hinweg geschmolzen – ein vergessenes Stück Jugend, ein Nachklang von Saiten, die längst gerissen geschienen.

Er wußte nun auch, warum Julei’s Anblick ihn so sehr ergriffen hatte.

Ehe er weiter fragen konnte, wurde die Thür wieder aufgerissen, und die Wirthin, die ihren Aerger noch nicht überwunden hatte, rief grollend herein: „No, wird der Ratschmarkt noch lang’ dauern? Ist’s Dir vielleicht gefällig, daß Du herunter kommst? Es giebt noch Enten zu rupfen, oder bringst Du das vielleicht auch nicht zuwege?“

Lautlos folgte das Mädchen der Zürnenden; lautlos blieb der Hochzeitlader zurück, allein und doch in einer Gesellschaft, wie er sie seit Jahrzehnten nicht mehr um sich versammelt gesehen hatte. Er sah sich selber auf dem Heimwege aus der russischen Gefangenschaft, sah sich mit dem Transporte vieler Anderen fortgetrieben, obwohl Müdigkeit, Hunger und Krankheit ihm kaum einen Fuß zu heben gestatteten, und fühlte es, wie damals, als er in einer der endlosen Flächen des Landes mit verschwimmenden Augen unter ein paar Birken, die in einem Schopfe beisammen standen, gleich einem Sterbenden nieder sank. Niemand bemerkte es; Niemand vermißte ihn. Er wußte nicht, wie lange er in der Betäubung so gelegen haben mochte, aber er erinnerte sich noch wohl, wie er zum ersten Male wieder die Augen aufgeschlagen hatte: da war es schwarze Nacht um ihn, und auf ihn sahen ein Paar noch schwärzere Augen herab, die ihn mit ängstlicher Sorgfalt betrachteten – es war eine Bande von Luftspringern, Seiltänzern und Feueressern, die ihn im Vorüberziehen liegen gesehen und mitgenommen hatte. Eine von den Tänzerinnen, ein zartes, schlankes, fast zigeunerhaftes Geschöpf, hatte sich seiner erbarmt und darauf gedrungen, daß man ihn nicht hülflos dem Schicksale des Verschmachtens überließ – ihre Augen waren es, in welche die des Erwachenden empor starrten. Die Gesellschaft hatte eben in einem Walde Lager geschlagen, und beim erlöschenden Scheine des Wachtfeuers hörte der Gerettete den Bericht seiner Retterin, betrachtete er dieselbe in der rothen Gluthbeleuchtung wie einen Engel, den seine Glorie umgiebt. Aber die Glorie blieb auch beim Tageslichte an ihr haften, und wenn dem Vereinzelten auch nichts Anderes übrig blieb, als sich, um vorwärts zu kommen, an die Truppe anzuschließen, so wurde ihm doch diese Nothwendigkeit zum innigsten Vergnügen, denn sie gestattete ihm, in Katscha’s Nähe zu bleiben. Zum ersten Male hatte sich das Herz in ihm geregt: ein Funke war aufgeblitzt, der in ihm, wie es seinem ruhigen Wesen entsprach, nicht zu einem wilden leidenschaftlichen Feuer aufloderte, aber mit stiller nachdenklicher Gluth weiter glomm. Er blieb auch dann noch bei der Gesellschaft, als man in bewohntere Orte gekommen war, wo es ihm möglich gewesen wäre, seinen eigenen Weg einzuschlagen und nach der Heimath zurückzukehren, aber es zog ihn Nichts dahin zurück, wo ihn Niemand erwartete und er wahrscheinlich schon längst als ein Vermißter zu den Todten geschrieben war. Dagegen hielt es ihn bei Katscha unwiderstehlich zurück, um so fester, als ihre Güte und Freundlichkeit ihn hoffen ließen, daß sein Bleiben auch ihr angenehm und erwünscht sei. Für die Truppe war es dies jedenfalls, denn seine bald entdeckten musikalischen Fähigkeiten waren für dieselbe eine höchst willkommene Verstärkung ihrer Kunst- und Erwerbskräfte. So war er mit ihr herum gezogen, jeden Tag sich fest vornehmend, Katscha seine Neigung zu erklären, und jeden Tag es unterlassend, weil unerklärliche Scheu und unbezwingliche Schüchternheit ihn davon abhielten.

Ein unseliger Morgen machte dem unseligen Hoffen und Schwanken ein rasches Ende: Katscha war mit einem Mitgliede der Gesellschaft verschwunden, ohne Sang und Klang, ohne Gruß und Kuß, ohne Abschied, ohne Erwartung und Hoffnung des Wiedersehens. Es war dem unbefangenen Liebenden wohl manchmal das Blatt geschossen, wenn er Katscha unvermuthet mit dem Burschen zusammen stehen oder mit ihm flüsternde Worte tauschen sah, aber in der Unschuld seines Gemüthes hatte er darin kein Arg gefunden, und wie sie seinen Augen als der Inbegriff aller weiblichen Schönheit galt, verehrte sein Herz in ihr den reinen Engel, der an dem lieblichen Köpfchen nur Flügel besaß und keinen irdischen Körper. Nun war der Bann gebrochen, der ihn in der Fremde gehalten hatte; nun gewann das Heimathsgefühl Gewalt über ihn und zog ihn nach Hause, wo man ihn aufnahm, beinahe wie einen Verschollenen, der aus dem Grabe wieder aufsteht und kaum noch irgendwo ein Plätzchen für sich findet. Er kam in der That, wenn auch nicht aus, doch von einem Grabe, denn mit dem Schmerze um die verlorene Liebe hatte er auf dem weiten Heimwege seine Jugend begraben und dann nach und nach den Schutt eines einsamen Lebens wie einen Hügel darauf geschüttet. Jetzt war das Grab wieder geöffnet, und seine Geister waren zurückgekommen; es war kaum ein Zweifel mehr möglich, daß er in Julei die Tochter Katscha’s wiedergefunden.

Feierliches Geläute scheuchte ihn aus seinen Gedanken empor; es war das erste Glockenzeichen zum Beginne des Hochamtes, nach welchem die Trauung stattfinden sollte.

Die Brautleute selbst und ihre nächsten Angehörigen waren indessen schon seit geraumer Zeit zu ebener Erde in einem Nebenzimmer versammelt, das zur Wohnung des Wirthes gehörte, von ihm aber so hochgeschätzten reichen Gästen überlassen worden war. Auf dem Tische standen ein großer Büschel aus gemachten Blumen, eine mächtige Torte, mit dem gleichen Schmucke besteckt, und einige Flaschen süßen Rothweins mit halbgefüllten Gläsern daneben. Es sah Alles recht festlich und hochzeitlich aus, aber der Gesellschaft selbst war das nicht nachzurühmen. Die Brautführer und die Kranzjungfern hatten das Gemach verlassen, um die Familie nicht in dem zu stören, was sie sich etwa noch zu sagen haben mochten, aber Niemand fühlte ein Verlangen, von dieser Aufmerksamkeit Gebrauch zu machen. Der Grubenmüller hielt ein Glas in der Hand, ohne zu trinken, und schaukelte sich gedankenlos auf dem Stuhle; die Braut zog verschütteten Wein auf der Tischplatte mit dem Finger in allerlei Zeichen und Züge auseinander, die sie dann hastig wieder verwischte; Zachariesel stand am Fenster und sah nach dem Thurme der Pfarrkirche hinüber, als wollte er auf der Uhr die Secunden nachzählen, bis er den ersten Ring der Kette am Finger trug, die ihn fesseln sollte – ein langes Leben hindurch. Die einzige Person, die ein einigermaßen hochzeitliches Ansehen hatte, war die Mutter des Bräutigams, ein ältliches, von ihren Lebensjahren eingeschrumpftes Weibchen, das nickend nach seinem Sohne hinübersah und vor Freude über dessen stattliches Aussehen zu keiner anderen Empfindung kommen konnte.

Die Ursache der allgemeinen Verstimmung stand übrigens groß und breit auf dem Tische.

In leidlicher Gemüthsverfassung waren Alle angekommen. Mechtild hatte zwar etwas trübe Augen, als wäre vor nicht langer Zeit ein Regenschauer daran vorübergezogen, aber als Zachariesel ihr entgegen trat, reichte sie ihm doch mit einem wohlgefälligen Lächeln die Hand; daß sie geweint hatte, fiel Niemand auf; ist es doch ein alter Spruch, daß eine weinende Braut eine lachende Frau bedeute. Die Männer begrüßten sich mit freundlichem Handschlage – da fuhr plötzlich der Geist der Zwietracht in die Gemüther und zwar sonderbarer Weise in der Gestalt des Liebesgottes. Der Wirth kam heran und brachte die Nachricht, daß die Botenfrau schon Tags vorher ein sorgfältig verpacktes Kistchen mit einem Hochzeitsgeschenke aus der Stadt gebracht habe. „So? Aus der Stadt?“ sagte Zachariesel mit sauersüßer Miene, während Mechtild das Blut in’s Gesicht schoß, der Müller aber, als wenn es ihn gar nichts anginge, gleichzeitig vor sich hinpfiff.

Die geöffnete Schachtel bestätigte vollauf die allgemeinen Vermuthungen; der galante Geometer in München hatte es nicht unterlassen können, durch die That zu zeigen, daß er des Tages

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 598. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_598.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)