Seite:Die Gartenlaube (1875) 613.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Helene.

Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
Woronesch, den 26. September 186–.

Seit zwei Tagen sind wir in Woronesch, und jetzt erst finde ich einen Augenblick der Ruhe und des Alleinseins. In solcher Verwirrung sind diese Tage dahingeschwunden, und so viel ungemüthliche Stunden liegen zwischen dem Morgen unserer Abreise und jetzt – dem trüben, kalten Septembermorgen und dieser stillen Abendstunde, daß es mir fast unglaublich erscheint, nur fünf Tage seien vergangen, seit wir Selo-Lazowoskaja verlassen haben, unser schönes Selo-Lazowoskaja mit seinen weiten Gärten, romantischen Bergabhängen, durch welche sich der Oskol gleich einem Silberbande hinschlängelt, und seinen dichten Wäldern. Nicht ohne einen Anflug von Wehmuth sah ich die weißen Säulen des Portals zwischen den herbstlich gefärbten Bäumen verschwinden und sagte in meinem Herzen dem schönen Landsitze Lebewohl – vielleicht für immer. Hat doch die Pracht seiner Umgebungen oft mein Herz getröstet und erquickt, wenn das Gefühl der Vereinsamung es zu überwältigen drohte. Das sind nun für ein deutsches Herz die unvermeidlichen Empfindungen beim Scheiden, und wenn sie auch nur einem Aufenthalte gelten, dem der kurze Zeitabschnitt eines Sommers in den Erinnerungen unseres Lebens seine Stätte angewiesen hat.

Woronesch, wenn es auch im Entferntesten nicht mit Moskau oder Petersburg verglichen werden kann, ist doch eine Gouvernementshauptstadt, in der man unter Menschen lebt und wo hoffentlich auch dem Geiste einige Anregung und Erfrischung zu Theil wird.

Iwan Alexandrowitsch Branikow war schon mehrere Tage vor uns abgereist, um in Woronesch einige Vorbereitungen zum Empfange seiner Familie zu treffen. Trotzdem herrscht noch in allen Räumen des weitläufigen Hauses die unbeschreiblichste Verwirrung, und an Ordnung ist nirgends zu denken. Zum Theil wird dieser Zustand allerdings dadurch hervorgerufen, daß in Folge eines an ihn gerichteten Ersuchens unser Gebieter seinen großen Saal zu dem officiellen Diner hergeliehen hat, welches morgen in Veranlassung eines hohen Kirchenfestes dem Gouverneur gegeben werden soll. Angenehm ist diese Unruhe aber keineswegs. Man hat mir noch nicht einmal mein Zimmer angewiesen, und mit Mühe nur konnte ich mir ein stilles Plätzchen erobern, um diesen Blättern, meiner einzigen Zuflucht in einsamen Stunden, die Erlebnisse der letzten Tage hinzuzufügen. Habe ich doch, alleinstehend unter so Vielen, keinen Vertrauten außer ihnen. Mögen sie denn einst nach Jahren mir ein Spiegel meines jetzigen bewegten Leben sein oder, wenn ich nie in die deutsche Heimath zurückkehren sollte, ein Vermächtniß an meine Geschwister, ein Andenken an die Schwester, die fern von ihnen im Herzen von Rußland den ernsten Kampf mit dem Leben und dem Schicksale kämpft.

Voll Spannung sehe ich der Ankunft unserer neuen Gouvernante entgegen, welche man täglich erwartet. Sie ist eine Russin. Wie schade, daß es nicht eine Deutsche sein konnte! Jedenfalls werde ich ihr freundlich entgegenkommen und suchen, ein gutes Verhältniß unter uns anzubahnen. Gebietet doch schon die Klugheit, daß die Gouvernante und die Gesellschaftsdame eines Hauses wenigstens keine Gegnerinnen sind.

Für heute bin ich zu müde, um noch ein Wort schreiben zu können.


Den 28. September.

Gestern sind wir ausgefahren, um die Procession des Kirchenfestes zu sehen. Es war der Einzug der Mutter Gottes von Kursk, welche zum Besuche bei uns einkehrte. Ich weiß nicht, ob ich je so viele Menschen durcheinander wogend gesehen habe. Begleitet von dem Geläute sämmtlicher Glocken der Stadt, zog der bunte, glänzende Zug an uns vorüber; der Gouverneur und der Gouvernementsmarschall trugen die Mutter Gottes, ein plumpes Holzbild. Ich war von Musik, Glockenläuten und Volksgeschrei vollkommen betäubt, hatte aber doch die Genugthuung, in dem Gewühle von Tausenden fremder Gesichter wenigstens ein bekanntes zu entdecken. Es war dasjenige des jungen Husarenrittmeisters Constantin Feodorowitsch Adrianoff. Während einiger Wochen des Sommers, da ihn eine Dienstangelegenheit in die Nähe von Selo-Lazowoskaja brachte, war er daselbst ein häufiger Gast und versprach, die angeknüpfte Bekanntschaft in Woronesch fortzusetzen. Sehen wir, ob er Wort halten wird.

Madame Branikow hat heute definitiv ihre Zimmer bezogen, die sich im ersten Stock des alten weitläufig gebauten Hauses befinden, welches der Familie Branikow als Winterresidenz dient. Was Eleganz und Comfort anbetrifft, so läßt die ganze Einrichtung nichts zu wünschen übrig. Es herrscht in den Wohnräumen ein solcher Reichthum an Divans, an Polstern und Teppichen, an Spiegeln, Gemälden und anderen Kunstsachen, daß Alles zusammengenommen sicher den Eindruck von Ueberladung machen würde, wenn nicht eben das Ganze mit ausgezeichnetem Geschmacke arrangirt wäre. Im zweiten Stocke sind die Schlaf- und Toilettenzimmer, das Arbeitszimmer unseres Gebieters Iwan Alexandrowitsch Branikow, das Reich der Kinder, der Gouvernante, der Bonnen und Zofen. In diesen Regionen wird sich, so Gott will, auch endlich ein bescheidener

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_613.jpg&oldid=- (Version vom 22.10.2022)