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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Raum für mich finden. Bisjetzt werden noch verschiedene Gemächer neu tapezirt, und ich sehe mich deshalb provisorisch in irgend einem Winkel untergebracht, in welchem ich mich höchst ungemüthlich fühle.


Den 3. October.

Heute nach dem Frühstücke war ich mit Madame ausgefahren, um verschiedene Besuche und Besorgungen zu machen. Bei unserer Rückkehr, als mein Mädchen kaum Zeit gefunden, mir Hut und Mantel abzunehmen, verkündete sie mir augenblicklich die große Mähr, daß vor einer Stunde die erwartete Gouvernante angekommen sei. Sie selbst habe nur durch eine Thürritze den Zipfel ihres Kleides gesehen, aber Wassili, der ihr aus den Wagen geholfen und sie nach oben geführt, habe gesagt, sie sei häßlich und unfreundlich.

Ich wies Masche mit ihrer entschieden dargelegten Neigung, sogleich meine neue Hausgenossin nach Herzenslust bei mir zu verklatschen, ab, nichtsdestoweniger war meine eigene Neugier stark genug, mich rasch in den Salon zu treiben, der unmittelbar an Zenaïde Petrowna’s Privatzimmer stößt und so groß ist, daß eine ganze Gesellschaft bequem Verstecken darin spielen könnte. Ich bemerkte sogleich die neu Angekommene, welche bereits unserer Gebieterin daselbst gegenüberstand, und auf den ersten Blick fühlte ich Neigung, Wassili Recht zu geben.

Die Gouvernante erschien mir häßlich. Sie ist kaum mittlerer Größe, und zu der hohen, eleganten Gestalt Madame Branikow’s bildete die ihrige einen entschieden unvortheilhaften Contrast. Ein dunkler Teint und sehr unregelmäßige Züge berührten mein Auge nichts weniger als angenehm, aber ich entdeckte zu gleicher Zeit, daß die Fremde prachtvolles schwarzes und sehr geschmackvoll geordnetes Haar und wundervolle Zähne besitzt.

„Kommen Sie!“ rief die Herrin des Hauses mir winkend. „Hier sehen Sie Olga Nikolajewna, unsere Gouvernante. Mademoiselle Helene, meine deutsche Gesellschafterin.“ Sie begleitete ihre Vorstellung mit einer leichten Handbewegung, und in demselben Augenblicke schlug die junge Dame ihre Augen zu mir auf. Sie sind vom intensivsten Blau, aber der erste Blick aus denselben, der rasch wie ein Blitz und prüfend über mich hinflog, übte eine durchaus erkältende Wirkung auf mich aus und hielt das warme „Willkommen“ zurück, welches mir bereits auf der Lippe geschwebt. Wir sagten uns gegenseitig einige höfliche Worte, und obgleich die ganze Vorstellung nur wenige Minuten in Anspruch genommen, schien sie Zenaïde Petrowna bereits zu lange zu dauern, der Falte nach zu urtheilen, welche plötzlich ihre hochgeschwungenen Brauen und ihre weiße Stirn leicht zusammenzog.

„Bitte, Helene,“ sagte sie, „führen Sie Mademoiselle zu Juliette und Alexandra, damit sie sich mit ihnen bekannt macht. Ich bin zu angegriffen, um noch einen Schritt gehen und ein Wort sprechen zu können.“

Wie zur Bestätigung des Gesagten ließ die Dame sich in einen großen weichen Lehnsessel nieder, den ihre bauschende Seidenrobe allerdings vollkommen ausfüllte.

„Eilen Sie, Helene, und kommen Sie bald zurück!“ fügte sie mit einem müden Augenaufschlage hinzu. „Sie können mir noch vor dem Diner die neue Phantasie von Chopin vorspielen.“

Zenaïde Petrowna Branikow liebt es nicht, zu warten, ich entledigte mich also möglichst rasch meines Auftrages und mußte aus demselben Grunde für jetzt darauf verzichten, meine Bekanntschaft mit Olga Nikolajewna weiter auszuspinnen, obgleich mich die Art und Weise tief innerlichst empörte, in der man sie gleichsam den Kindern zuschob, deren Lehrerin und Erzieherin sie künftig sein wird.

Es bedurfte einer wirklichen Anstrengung für mich, die rebellischen Empfindungen, durch solche Reflexionen in mir wachgerufen, wieder niederzukämpfen. Fand Madame in ihrer Ungeduld, die Phantasie zu hören, doch nicht einmal Zeit, sich bei meiner Rückkehr nach dem Verlaufe der ersten Begegnung ihrer Kinder mit der neuen Lehrerin zu erkundigen. Ich setzte mich an den Flügel und – Dank dir, heilige Kunst! Welche zugleich beruhigende, versöhnende und erhebende Kraft liegt doch in der Musik! Bildet sie nicht eine Brücke, um die verschiedensten Charaktere, momentan wenigstens, in gleicher Freude, gleichem Interesse zu verbinden?

Madame Branikow zeigt sich niemals so liebenswürdig, als wenn ich gespielt habe, und ich vergesse niemals so sehr, was mich an ihr verletzt, als wenn wir über Musik plaudern. Es fehlt ihr weder an musikalischem Verständniß noch Geschmack, und ich glaube, sie würde es selbst zu bedeutender Fertigkeit im Vortrage gebracht haben, wenn ihre Trägheit ihr erlaubt hätte, dem Talente, welches sie besitzt, durch Fleiß und Uebung zu Hülfe zu kommen. Bin ich doch überzeugt, daß sie es schon für eine weit bedeutendere Anstrengung ihrerseits hält, einem Musikstücke mit Aufmerksamkeit zu folgen, als für mich, es vorzutragen. Doch still, Helene, keine Spöttereien! Ist deiner Gebieterin vorzuspielen denn nicht deine angenehmste Pflicht? Ja, gewiß – und zwar eine weit angenehmere, als in Deutschland das harte Brod einer Musiklehrerin zu essen, deren Ohr den lieben, langen Tag von den Etuden und falschen Accorden ihrer Schülerinnen zerrissen wird.

Madame sagte mir heute, daß sie versuchen wird, einen Violin- und einen Violoncellspieler zu engagiren, mit denen ich wöchentlich einen Abend gemeinschaftlich musiciren soll. Darauf freue ich mich und denke, es soll recht hübsch werden.


Den 5. October.

Warum wird es mir nur so schwer, mich an ein neues Gesicht zu gewöhnen, mich anzuschließen, wenn ich es doch möchte! Gestern Abend war ich entzückt von Olga Nikolajewna. Sie besitzt eine eminente Unterhaltungsgabe und amüsirte uns so gut beim Thee, indem sie mit sprudelndem Humor ihre Reise-Abenteuer und ihr früheres Leben schilderte, daß Iwan Alexandrowitsch fast nicht aus dem Lachen herauskam und unsere Gebieterin sich so animirt zeigte, wie ich sie noch nie gesehen habe. Heute, da ich beim Lichte des neuen Morgens kühl über ihr Benehmen nachdenke, scheint es mir unweiblich und herzlos. Die Personen, deren Eigenthümlichkeiten und Schwächen sie ohne Schonung durch ihre witzigen Bemerkungen geißelte, sind eben die, mit denen sie bis vor Kurzem unter einem Dache gelebt, Freude und Leid getheilt hat. Das gefällt mir nicht, und ich werde Mühe haben, ihr ohne Zwang heute entgegen zu treten. Es ist und bleibt eine unbequeme Schwäche meines Charakters, daß es mir immer wieder fast unmöglich ist, meine Gedanken über die Menschen ein wenig hinter einer verbindlichen Außenseite zu verbergen. Warum nur kann ich ihr Thun und Treiben nicht gleichgültig und lächelnd ohne scharfe Kritik im Innern an mir vorübergehen lassen? Olga war in ihrer Lebendigkeit fast schön. Ich will mich bemühen, in dem Gedanken, daß sie eine Russin ist, ihr Benehmen von gestern milder zu beurtheilen. Vielleicht lernen wir uns noch verstehen.


Den 8. October.

Gestern machte uns Constantin Feodorowitsch einen Besuch mit seiner Mutter, der Generalin Adrianoff. Es war eine große Aufmerksamkeit, daß die feine, stolze Dame zuerst zu uns kam. Sollte ihr Sohn sie dazu veranlaßt haben? Er erzählte mir wieder von seiner Schwester, die er leidenschaftlich zu lieben scheint. Wie er versichert, ist sie sehr musikalisch und wünscht nach der Rückkehr von ihrer Reise mit mir vierhändig zu spielen. Wie gern erkläre ich mich bereit dazu!

Den 12. October.

Wunderbar! Seit gestern wandle ich in einem Zustande träumenden Nachsinnens umher, in meiner Einbildungskraft die Befestigung eines Bildes suchend, das ich nicht finden kann. Wo im Leben habe ich nur jene dunkeln, brennenden Augen schon einmal gesehen? Unaufhörlich verfolgt mich seit gestern ihr glühender Blick, und wenn ich mir hundertmal wiederholt, es sei eine Täuschung, eine Unmöglichkeit, daß er schon je dem meinigen begegnete, so ertappe ich mich im nächsten Augenblicke wieder auf dem unfruchtbaren Bemühen alle meine Erinnerungen zu durchstöbern nach dem Besitzer der schönsten schwarzen Augen, welche die meinigen noch erblickt haben und welche mir trotz aller Vernunftgründe wunderbar bekannt vorkommen.

Iwan Alexandrowitsch nahm gestern Olga und mich mit in’s Theater, da seine Gemahlin zu träge war, um ihn zu begleiten. Eine herumziehende Truppe gab Vorstellungen, die natürlich nur sehr mittelmäßig ausfielen, zudem ist das Theater klein und schmutzig, aber es war doch einmal wieder ein Theater, und die Musik, welche die Zwischenacte ausfüllte, gewährte durch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 614. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_614.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)