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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Musikabende Theil zu nehmen. Wir verabredeten, was wir zum nächsten Male einüben wollten; eine andere junge Dame sang noch mehrere Lieder, und es scheint sich ein großer musikalischer Wetteifer entwickeln zu wollen.

Als ich, so froh gestimmt wie noch nie seit meinem Aufenthalte hier, vom Flügel zurücktrat, begegneten meine Blicke von ungefähr denen Olga Nikolajewna’s, die, wie es schien, Wéra und mich beobachtet hatte. Für einen Augenblick durchzuckte es mich fast, als läge in den blauen auf uns gerichteten Augen der Gouvernante ein böser, falscher Ausdruck, aber schon in der nächsten Minute schämte ich mich meines wunderlichen Mißtrauens, denn das junge Mädchen kam mir freundlich entgegen.

„Fräulein Adrianoff ist sehr schön,“ sagte sie.

Ich stimmte voll Ueberzeugung ihren Worten bei.

„Und,“ fuhr Olga fort, indem ihre Blicke der elastischen Gestalt Wéra’s folgten, wie sie durch den Schwarm der Gäste schritt und hier und da ein an sie gerichtetes Wort freundlich beantwortete, „und ach, sie erscheint mir noch weit mehr beneidenswerth als schön. Sie wissen doch,“ fuhr sie dann hastig zu mir gewendet fort, „daß Fräulein Adrianoff das vornehmste und reichste Mädchen in ganz Woronesch ist?“

„Ich weiß allerdings, daß ihre Familie sehr angesehen ist und ihr Vater eine einflußreiche Stellung einnimmt.“

Olga lachte mit einem versteckten geräuschlosen Lachen, welches ich bereits an ihr kenne. Ihre Blicke richteten sich wieder auf die besprochene junge Dame, die eben geduldig unseres Gebieters sicher nicht allzu feine Schmeicheleien anhörte. „Wenn man Wéra Feodorewna Adrianoff heißt,“ begann sie von Neuem, „so darf man sich schon Mancherlei erlauben, was anderen armen Wesen den Hals brechen würde. Hat man Ihnen denn auch gesagt, Helene, warum Fräulein Adrianoff längere Zeit verreist war?“

Ich sah die Fragende, durch deren Worte und noch mehr durch den Ton, in dem sie gesprochen wurden, ich mich unheimlich berührt fühlte, verwundert an. „Ich denke, sie war zum Besuche bei Verwandten in Petersburg,“ lautete dann meine Antwort.

Die Gouvernante lachte abermals in sich hinein und trat mir einen Schritt näher. „Es hat wenig zu bedeuten, wo sie war, sondern es handelt sich darum, weshalb sie ging,“ sprach sie leise. „Jedermann sagt, daß sie eine Liebschaft mit einem – ja, was weiß ich – mit irgend einem Lehrer hatte. Ihre Excellenz, die Generalin Mutter, kam dahinter und schickte sie Hals über Kopf auf Reisen. Den Liebhaber, nun, den hat sie wahrscheinlich die Treppe hinunter werfen lassen. Man macht bei uns zu Lande sehr wenig Umstände mit dergleichen unbequemen Persönlichkeiten; jedenfalls hat man ihm sofort das Haus verboten.“

Ich sah wie erstarrt die Redende an. Arme Wéra! War das vielleicht die Erklärung Deiner melancholischen Augen, oder hefteten sich Neid und Bosheit verleumderisch an Deine Fersen?

Olga Nikolajewna’s lächelndes Gesicht flößte mir in dem Augenblicke vollständigen Widerwillen ein. Warum wußte doch sie, die kürzere Zeit hier war als ich, so genau von Dingen Bescheid, von denen mir noch Niemand ein Wort anvertraut hatte?

Zu irgend einer Erwiderung nicht aufgelegt, begnügte ich mich mit einem Achselzucken und entfernte mich, um nicht noch mehr von Olga’s zweifelhaften Nachrichten zu profitiren. Mir für den Rest des Abends meine heitere Stimmung zu nehmen, das war ihr freilich vollkommen gelungen.


Den 20. October.

Wie ein schwerer Traum ist es mir, und immer von Zeit zu Zeit denke ich, daß Alles, was ich erlebt, eine Unmöglichkeit ist, daß ich eines Tages aus diesem Zustande von Betäubung wieder erwachen werde; leider aber ist es Wahrheit und nackte Wirklichkeit. Bin ich in der That noch dieselbe Helene, deren kühle, verständige Ruhe stets das Erstaunen ihrer leicht empfänglichen, enthusiastischen Altersgenossinnen hervorrief?

Es war am zweiten Tage nach unserer Soirée; ich las eben Madame Branikow vor, als plötzlich ein Diener kam und mir einen Herrn anmeldete; mir, die ich mir doch nicht bewußt war, Bekanntschaft in Woronesch zu haben. Er präsentirte mir zugleich eine Karte, und nach dem ersten Blicke, den ich auf dieselbe geworfen, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Urplötzlich wußte ich, wem jene schwarzen Augen gehörten, deren durchdringender Blick mich tagelang verfolgt hatte und noch immer mehr oder minder mein Nachdenken reizte. Auf der Karte stand der einfache Name: Alexis Gregorowitsch Hirschfeldt.

Seltsam verschlingen sich die Wege, auf denen Menschen einander wieder begegnen! Als ich behufs meiner Ausbildung in der Musik ein Jahr lang am Conservatorium zu Berlin mich aufhielt, lernte ich dort unter andern jungen Leuten auch flüchtig ein Geschwisterpaar aus Rußland kennen, einen Bruder mit seiner Schwester. Da ich jedoch von den übrigen Conservatoristen und Conservatoristinnen, nur mit meinen Studien beschäftigt, mich fast ganz fern hielt, blieb die Bekanntschaft mit den erwähnten Russen ebenfalls eine durchaus oberflächliche, die sich eigentlich nur auf das Sehen bei den gemeinschaftlichen Gesangübungen und in den Concerten beschränkte. Aufgefallen waren mir beide junge Leute damals allerdings durch ihr fremdländisches Aussehen und der Bruder zumal durch sein geistvolles, energisches Gesicht und seine großen, glänzend schwarzen Augen.

Als ich in gelinder Aufregung wenige Minuten nach Empfang der Anmeldung den Salon betrat, stand er mir gegenüber. Es ist der Regiments-Capellmeister, Herr Hirschfeldt, der neulich im Theater die Musik dirigirte, wie er es auch häufig in den Concerten thut, und außerdem noch Zeit findet, in seiner Kunst zu unterrichten. Seit ich ihn in Berlin gesehen, hat sein Aeußeres sich wunderbar zu voller männlicher Schönheit entwickelt. Das war der erste Eindruck, den ich bei seinem Anblick empfing, und der sich bei längerem Beisammensein immer mehr geltend machte, obgleich seine Züge, freilich vergeistigt und idealisirt, doch unverkennbar einen Anflug seiner semitischen Abstammung tragen. Der Vater des jungen Capellmeisters ist nämlich ein getaufter Jude, der in Charkow eine lithographische Anstalt besitzt. Ich wunderte mich jetzt, daß ich ihn neulich im Theater nicht auf der Stelle wiedererkannt hatte.

(Fortsetzung folgt.)

Satyr im Parke.

Tief im Park, bei alten Bäumen,
Eingerahmt von vollen Rosen,
Die mit duftgeschwellten Träumen
Seinen ew’gen Schlaf umtosen,
Steht der Satyr – manch’ Jahrhundert
Ist vorüber ihm gerauscht,
Den, nachdenklich und verwundert,
Jetzt ein schönes Kind belauscht:

„Frei und edel diese Züge,
Hoch die Stirn und voll Gedanken,
Doch, als ob zu schwer es trüge,
Leise scheint das Haupt zu schwanken;
Wie von süßem Rausch umflossen,
Den gebroch’nen Blick gesenkt –
Ob an Freuden, die genossen,
Ob er an erhoffte denkt?

Lächelt schon der Mund entgegen
Seiner Nymphe Willkommspende,
Während auf verschlung’nen Wegen
Schleicht zur Stelle die Behende?
Oder mußten sie sich trennen –
Fühlt er noch zum Abschiedsgruß
Heiß auf seinen Lippen brennen
Ihren letzten langen Kuß?

Oder täuscht er meinen Glauben,
Hat nach Liebe kein Verlangen,
Und es hält der Saft der Trauben
Den betäubten Sinn umfangen?
Weinlaub kränzet seinen Scheitel,
Und des Zechers feuchter Mund
Lächelt höhnisch: Alles eitel,
Auf dem schwanken Erdenrund.

Mann, selbst noch in Stein gehauen,
Bleibst ein Räthsel allerorten,
Und das Herz der armen Frauen
Sucht umsonst nach Lösungsworten;
Daß beim hohen Liebesfeste
Niemals uns die Furcht beschleicht:
Seine Stunden hat der Beste,
Da er diesem Satyr gleicht.

Aber durch des Kranzes Fülle
Seh’ ein Hörnerpaar ich ragen.
Sollte hier die Menschenhülle
Trügerisch ein Thier nur tragen?
Und ich war schon so beklommen,
Scheute vor den Männern mich –
Einen hätt’ ich ausgenommen,
Einen Einz’gen, sicherlich.“

Albert Traeger.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 616. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_616.jpg&oldid=- (Version vom 7.10.2021)