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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Helene.
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)


Herr Hirschfeldt verbeugte sich tief bei meinem Eintritt und dann, mir einige Schritte entgegenkommend, sagte er: „Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, daß die Erinnerung an frühere Bekanntschaft mir den Muth giebt, Sie aufzusuchen! Ich baute darauf, daß hier in der Fremde ein Gesicht, welches Sie einst in der Heimath gesehen, Ihnen vielleicht nicht ganz unwillkommen sein dürfte. Habe ich zuviel gehofft, so heißen Sie mich einfach wieder gehen!“

Diese Worte, mit einer Stimme voll musikalischen Wohllautes in meinem geliebten, lange nicht vernommenen Deutsch gesprochen, ließen jede Fiber meines Herzens, wie von einem elektrischen Strome berührt, wonnevoll erbeben. Unwillkürlich streckte sich dem Redenden meine Hand entgegen, die er in die seinige nahm und leicht mit den Lippen berührte. „Das war eine Ueberraschung,“ sagte er, „eine Berliner Collegin hier in Woronesch wiederzusehen!“

Ich begrüßte ihn jetzt ebenfalls mit Herzlichkeit, lud ihn ein, Platz zu nehmen, und es war wunderbar, mit welcher Leichtigkeit und Zwanglosigkeit wir uns alsbald inmitten der lebhaftesten Unterhaltung befanden über alte Berliner und neue russische Erlebnisse, über das Conservatorium, über Musik etc. Ich endigte mit dem Vorschlage, Herrn Hirschfeldt meiner Gebieterin vorzustellen, und er ging bereitwillig darauf ein.

Zenaïde Petrowna’s Launen sind unberechenbar wie Aprilwetter. Ich zitterte also im Geheimen für den Erfolg, als ich ihr meinen Gast zuführte, aber siehe da – Alles ging gut über Erwarten. Er wußte sich freilich ihr gegenüber zu benehmen, wie der gewandteste Hofmann, und es kostete mich Mühe, unter einer unverändert ruhigen Außenseite meinen freudigen Schreck zu verbergen, als sie schließlich, indem sie den jungen Capellmeister huldvoll entließ, ihn zu unseren musikalischen Soireen einlud. Er sagte mit verbindlichem Danke zu, und Madame wußte ebenfalls, was sie that, als sie sich den „Künstler“ anwarb, um ihren Gesellschaften ein erwünschtes Relief zu verleihen.

Fort war er, und ich blieb zurück in einer unbeschreiblichen Stimmung – hingerissen, bezaubert. Was war es nur, das all mein Sinnen und Denken augenblicklich, unwiderstehlich und unrettbar an diesen mir beinahe ganz Fremden fesselte? Ich denke, es war der Geist, der da hinreißt, wo alle Andern dumm und alltäglich erscheinen. Und Geist ist es, der aus jenen dunkeln Augen blitzt, jedem seiner Worte Bedeutung giebt. Ich habe hier wahrlich schon genug Herren kennen gelernt, und unter ihnen manchen, der auf seine Schönheit stolz sein durfte, doch Alle ohne Ausnahme blieben sie mir gleichgültig. Ist nicht Constantin Feodorowitsch schön und der vollendetste Cavalier, den man sehen kann? Und doch würde er mir nie ein anderes Interesse einflößen als eben das, welches wir für einen amüsanten, gut erzogenen Gesellschafter haben. In seinen Augen begegnet mir zu oft ein Ausdruck von Blasirtheit, der mich unangenehm berührt, und unwillkürlich, wenn ich sein Urtheil über Welt und Menschen höre, drängt sich mir der Gedanke auf, das Leben habe den Schmetterlingsstaub bereits von seiner Seele gestreift. Wie anders dieser junge Musiker, dessen energischer Wille frisch und lebendig von seiner Stirne leuchtet, der einfach sagt: „Alles ist gegen mich in diesem Lande, in dem der Kastengeist regiert, Mangel an Rang und Reichthum, meine Abkunft, und dennoch – trotz Allem werde ich meinen Weg machen.“ Und man fühlt in demselben Augenblick mit Sicherheit: er wird ihn machen. In wirrem Durcheinander stürmten diese Gedanken durch meinen Kopf, als ich die vorhin unterbrochene Lectüre des langweiligen französischen Romans wieder aufnehmen mußte. Ich las vollkommen mechanisch, ohne selber ein Wort zu begreifen oder zu behalten, und dankte Gott in meinem Herzen, als neuer Besuch dieser Tortur ein Ende machte.

Ruhe freilich gab es darum doch nicht für mich; mein Herz befand sich in immerwährendem Zwiespalt mit der eigenen Vernunft und besseren Ueberzeugung. Herr Hirschfeldt hatte mir nämlich gesagt, daß seine Mutter und Schwester seit einiger Zeit zum Besuch bei ihm seien, daß Letztere mich neulich im Theater gesehen habe und ebenfalls meine Bekanntschaft zu erneuern wünsche. Er hatte an diese Mittheilung die dringende Bitte geknüpft, ich möge den Damen einen Besuch machen, und ich Unbedachtsame gab das Versprechen, noch bevor ich mich recht besonnen. Was sollte ich jetzt thun? Das Herz sprach unbedingt; Hingehen. Die Vernunft dagegen hieß mich zurückbleiben und mit aller mir zu Gebote stehenden Kraft, anstatt es noch zu nähren, gegen ein Gefühl ankämpfen, welches mich zu überwältigen drohte. Die Vernunft trug endlich in mir den Sieg davon, und ich beschloß, so schwer es mir wurde, und auf die Gefahr hin, wortbrüchig zu erscheinen, mich zurückzuhalten, doch – wer kann seinem Schicksal entrinnen? Ich ging am Sonntage in die deutsche Kirche, und auf dem Rückwege begegneten mir auf der Promenade sämmtliche Hirschfeldt’s, Mutter, Bruder und Schwester. Sie redeten mich an, und nunmehr wurde es mir zur Unmöglichkeit, die erneute freundliche Einladung abzulehnen. Ich begleitete sie nach Hause und lernte in der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 629. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_629.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)