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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

„Mein Gott, was ist vorgefallen?“ fragte ich, indem ich aus einer Krystallflasche ein Glas mit Wasser füllte und zu der Gruppe herantrat.

Wéra, die mir sofort den Platz neben Olga abtrat, starrte mich mit ihren großen Augen rathlos und ängstlich an. „Es ist entsetzlich,“ sagte sie, „ich bin beinahe gestorben vor Angst.“

„Aber was ist geschehen?“ wiederholte ich, während ich versuchte, die Leidende emporzurichten und ihr einige Tropfen Wasser einzuflößen. „Olga war doch vor einer Stunde noch vollkommen wohl.“

Wéra’s Wangen überhauchte bei meiner dringenderen Frage ein mattes Roth, und ihr Blick suchte den meinigen zu vermeiden. „Wir wollten einen Augenblick hier ausruhen,“ sagte sie, fast bei jedem Worte stockend. „Wir plauderten – über – mancherlei, und –“

„Und –?“ Ich wollte der Sache auf den Grund kommen und sah deshalb die junge Dame so fest und fragend an, daß sie noch mehr erröthete, aber sich zu gleicher Zeit zum Antworten gezwungen fühlte.

„Und – wir – wir sprachen über Hirschfeldt,“ fuhr sie langsam fort, „als dieser furchtbare Zufall eintrat, als –“

„Alexis!“ kreischte in demselben Augenblick Olga laut auf und fuhr abermals wild empor.

Ich sah unwillkürlich, fast entsetzt nach dem Eingange zum Salon, der nur durch einen dichten Vorhang geschlossen war und von wo aus wir keine Minute vor Ueberraschung sicher waren. „Vor allen Dingen müssen wir sie von hier fortschaffen,“ dachte ich, machte aber in eben der Secunde auch die wenig tröstliche Entdeckung, daß ich auf Hülfe von Seiten des Fräulein Adrianoff schwerlich würde rechnen können, denn diese war neben dem Divan niedergesunken und verbarg schluchzend das Antlitz in den Kissen desselben.

Wäre nur meine treue Masche zu erreichen gewesen! Ich wollte einen Augenblick der Ruhe, der in Olga’s Zustand eingetreten war, benutzen, um mich in dem Gemache nebenan nach einer Kammerzofe umzusehen, und näherte mich deshalb dem großen Vorhange. Noch bevor ich ihn erreicht hatte, thaten sich jedoch die Falten desselben auseinander, und – ich prallte erschrocken zurück – der Capellmeister trat mir entgegen.

Dieser Mensch wagt in der That Alles. Hätte Madame ihn aus ihrem Schlafzimmer kommen sehen, ich bin gewiß, sie würde ihm sofort die Thür gezeigt haben.

„Woher kommen Sie?“ frug ich ernst.

Er zuckte die Achseln und sagte, vollends näher kommend. „Ich mußte wissen, was vorgeht, und darum habe ich mir durch die verschiedenen Corridore und Nebenzimmer einen Weg gebahnt. Aber wo ist Wéra?“

Die Genannte war bei dem ersten Laut seiner Stimme bereits wie eine Feder emporgeschnellt, und auch auf die Gouvernante hatte dieselbe eine bemerkenswerthe Wirkung geäußert. Zuerst hatte es wie ein Beben ihren Körper durchzuckt, dann richtete sie sich in eine sitzende Stellung empor, strich das herabgeglittene Haar aus der Stirn und schaute mit weitgeöffneten Augen Hirschfeldt an. Er aber warf nur einen flüchtigen Blick auf sie, der ihm freilich den Stand der Dinge vollkommen klar zu machen schien. Er ging zu Fräulein Adrianoff und sagte zitterd vor Erregung, fast drohend: „Haben Sie vergessen, Wéra, was ich Ihnen verboten habe? Haben Sie meine Warnungen vergessen?“

„O nein!“ Sie sah flehend in seine blitzenden Augen und erbebte leise. „Ich werde sie nie vergessen.“

„Sie dürfen nicht hier bleiben,“ fuhr er dringender fort. „Unter keiner Bedingung darf man Sie hier finden. Begreifen Sie nicht, Wéra, was auf dem Spiele steht? Sie müssen sofort in den Saal zurückkehren. Sie müssen sogar tanzen.“

„Ich kann nicht. O nein, Alexis, ich kann es wirklich nicht,“ entgegnete Fräulein Adrianoff, welche sich vergebens bemühte, ihre Thränen zurückzuhalten.

„Wéra!“ In dem einen Rufe seiner modulationsfähigen Stimme lag Alles ausgedrückt – eine zärtliche Bitte und ein drohender Befehl. „Wéra, ich will es; kehren Sie in den Saal zurück! Wenn es hier zu irgend einem heftigen Auftritt kommen sollte – begreifen Sie nicht, daß die Folgen unberechenbar sein würden? Kommen Sie,“ er zog das junge Mädchen, welches unfähig war, ihm noch irgend einen Widerstand entgegen zu setzen bis an den Vorhang. „Gehen Sie durch die nächsten beiden Zimmer!“ gebot er. „Auf dem Corridore finden Sie Wassili, dem ich einen Rubel gegeben habe; er wird Sie in den Musiksaal führen.“

Er sah ihr nach, bis der letzte Schimmer ihrer knisternden Seidenrobe hinter den dunklen Falten des Vorhanges verschwunden war, und als er sich dann in’s Zimmer zurück wendete, stand Olga Nikolajewna vor ihm.

Diese Letztere hatte von dem Momente an, als er das Gemach betreten, ihn nicht aus den Augen gelassen. Sie war seitdem wie mit einem Schlage wieder Herrin ihrer selbst, wenn auch ihre Aufregung noch immer etwas Beängstigendes hatte. Ob die zwischen Wéra und Hirschfeldt gewechselten Worte ihr trotz ihres Aufhorchens unverständlich geblieben waren, vermag ich nicht zu entscheiden, glaube es jedoch, da sie in deutscher Sprache und gedämpften Tones gesprochen waren und Alles nur den Verlauf weniger Secunden in Anspruch genommen hatte.

Wie dem aber auch sei, sie hatte genug begriffen. Ich hätte sehr wenig Fassungsgabe besitzen müssen, um nicht von vorne herein zu verstehen, daß sie all ihr Geschick für die Intrigue angewendet hatte, Fräulein Wéra zutraulich zu machen, daß sie sich mit derselben isolirt hatte, um sie über ihr Verhältniß zu Hirschfeldt auszuforschen und daß sie vorhin, durch irgend welche unvorsichtige Aeußerungen des Fräuleins, in eine Aufregung versetzt war, die ihr alle Besinnung geraubt hatte. Jetzt stand sie dem Musiker gegenüber mit funkelnden Augen und bebenden Lippen.

„Verräther!“ zischte sie ihm zu.

Eine plötzliche Gluth überflog seine Stirn; seine Blicke trafen sie wie zwei Blitze, und während einiger Secunden glaubte ich, der in ihm wogende Unmuth würde gegen sie losbrechen. Hirschfeldt faßte sich indessen schnell wieder und sagte mit vollkommener Selbstbeherrschung im leichten Conversationstone: „Sie sind erregt, mein Fräulein. Ich denke, eine Stunde der Ruhe und ungestörten Nachdenkens würde Sie wieder herstellen.“

Olga’s Hände ballten sich; sie rang nach Athem, als wolle der Zorn sie ersticken, und im Geiste sah ich bereits den Krampfanfall zurückkehren, aber die Wuth siegte in ihr und ließ sofort mit Gedankenschnelle die Worte über ihre Lippen sprudeln: „Ah, mein Herr,“ rief sie, „man kennt Sie endlich, man weiß, was Ihre Liebesbetheuerungen zu bedeuten haben. O, ich danke dem Himmel, daß Sie gerade in diesem Augenblicke vor mir stehen, daß ich gleich jetzt meiner Empörung Worte geben kann. Sie haben mit meinem Herzen ein unwürdiges Spiel getrieben, ein falsches, schändliches, nichtswürdiges Spiel. Aber wenn Sie wähnten, man dürfe mich ungestraft mit Füßen treten, so sollen Sie eines Tages Ihren Irrthum erkennen, und ich will wenigstens die Genugthuung haben, Ihnen zu sagen, daß ich Sie verabscheue.“

Um Luft zu schöpfen, hielt sie einen Moment inne. Der Gegenstand ihrer zornigen Aufregung ließ den Blick von ihr zu mir mit einem Achselzucken herüber schweifen, welches zu sagen schien: „Was will sie eigentlich von mir mit all dieser tollen Wuth?“

Olga aber hatte diese Bewegung mit raschem Blick erfaßt. Ein erneutes Zittern überlief ihren Körper. Sie schüttelte die kleine Faust gegen ihren Widersacher und schleuderte ihm giftig die Worte zu: „Spielen Sie nicht den Unschuldigen, den Unwissenden – ich weiß Alles.“

Da schient auch ihn die Geduld zu verlassen. Er stampfte mit dem Fuße und rief heftig, ihr einen Schritt näher tretend: „Was wissen Sie?“

„Genug, um mich zu rächen,“ lautete Olga Nikolajewna’s Antwort, und indem sie Hirschfeldt herausfordernd anschaute, strich sie hoch aufathmend das dunkle Haar von der Stirn. Es schien ihr eine Art von Befriedigung zu gewähren, daß endlich sein Gleichmuth ihn verlassen, daß sie die verwundbare Stelle getroffen habe.

Mich empörte die ganze Scene in tiefster Seele, und da die Gouvernante auf’s Neue in Verwünschungen und Drohungen ausbrach, ging ich auf sie zu, fest entschlossen, ein Ende zu machen – da plötzlich rauschte die Portière hinter uns, und als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_664.jpg&oldid=- (Version vom 12.3.2019)