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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Anderen zuvorthut. Sie ruht weder an Sonn- noch an Feiertagen, und ein Theaterbesuch, oder ein Ausflug in die Umgegend von Paris an einem Sommersonntag bildet in ihrem Dasein eine merkwürdige Epoche. Und wie viele Frauen in dieser Classe giebt es, die niemals ihr Stadtviertel verlassen! Ich selbst kenne mehrere, die kaum einmal im Jahre die Boulevards sehen, oder von einem Seineufer zum andern kommen.

Wenden wir uns nun der Arbeiterclasse zu, jener Classe nämlich, die von der Hand zum Munde lebt, so finden wir die Hausfrau ebenfalls in ununterbrochener Rührigkeit und die größten Entbehrungen ertragend, um ihre Kinder anständig zu kleiden. Wer ein Bild von dem Familienleben dieser Volksschichte haben will, der beobachte die Menge, die sich während der schönen Jahreszeit an Sonntagen aus der Stadt nach deren reizender Umgebung drängt. Er wird auf jedem Schritte jenen Arbeiterfamilien begegnen. Sie lagern sich dann dicht an den Fortificationen im Grünen und nichts ist reizender, als der Anblick der Kinder, die sich leicht zu gemeinsamen Spielen gruppiren, sich einander mit „Monsieur“ und „Mademoiselle“ anreden und nur höchst selten in Streit gerathen.

Der Franzose liebt nicht nur seine eigenen Kinder, sondern die Kinder überhaupt. Wer einem Kinde hart begegnet, zieht sich gleich allgemeinen Tadel zu, und er setzt sich den unangenehmsten Folgen aus, wenn er es wagt, ein Kind roh zu behandeln. Ich will, da ich von dem französischen Familienleben spreche, noch hinzufügen, daß der Familienvater Abends bei den Seinigen bleibt, oder nur mit diesen das Haus verläßt. Die Pariser Kaffeehäuser sind stets gefüllt, aber die Besucher derselben bestehen aus Fremden, aus jungen Leuten, oder aus solchen Individuen, die keinen häuslichen Heerd gegründet. Ich spreche natürlich hier, wie überhaupt in dieser Skizze, von der Regel und nicht von den Ausnahmen. –

Ich habe bereits gesagt, daß Scheinheiligkeit unter den Franzosen sehr selten; unter den Französinnen ist die Prüderie ebenfalls sehr selten. Mit einer französischen Frau kann man über Alles sprechen, selbst über die allerheikelsten Dinge, wenn es nur mit Geist und Anstand geschieht.

Aeußerst wohlwollend von Natur, schreckt die Französin vor keinem Vorurtheile ihres Geschlechtes zurück, wenn es sich um eine That der Menschlichkeit handelt. Das Institut der Soeurs de charité hat in Frankreich seinen Ursprung. Ich habe mich indessen unzählige Male überzeugt, daß eine Französin nicht erst die Tracht dieser aufopferungsvollen Schwestern zu tragen braucht, um es diesen an Opferfreudigkeit gleich zu thun.

Ein sehr feines Tactgefühl herrscht selbst in den untersten Schichten der weiblichen Bevölkerung. Folgendes Beispiel möge dies beweisen.

Ich wohnte eine lange Reihe von Jahren in einem und demselben Hause und wurde von Burschen bedient, welche die Hausmeisterin in Dienst nahm, da sie selbst, alt und schwach, zur Arbeit unfähig war. Einer dieser Burschen, ein leichtsinniger Range, blieb nicht lange im Hause. Kaum hatte er aber dasselbe verlassen, als ich ein Exemplar der Gedichte Béranger’s vermißte, was mir um so unangenehmer war, als das Buch nicht mir gehörte. Ich theilte dies der Hausmeisterin mit, deren Verdacht sogleich auf den eben entlassenen Burschen fiel. Eine Stunde später stellte sich eine Frau mit bleichen Wangen und verweinten Augen bei mir ein.

„Ich bringe Ihnen das Buch,“ sagte sie, „welches Ihre Hausmeisterin bei mir reclamirte. Mein Sohn hatte nicht die Absicht, es zu entwenden; er hat es nur lesen wollen, und da er es ohne Erlaubniß genommen und, nachlässig wie er ist, es beschmutzte, hat er nicht gewagt, es wieder an Ort und Stelle zu legen.“

Ich sagte der Frau, um sie zu beruhigen, daß das Buch eben nicht kostspielig, nur sei es mir unangenehm, dasselbe dem Eigenthümer in solch unsauberem Zustande zurückzuschicken.

Als ich gegen Abend nach Hause kam, fand ich ein neues Exemplar der Gedichte, und zwar in der Ausgabe des von mir entlehnten. Die arme Frau hatte den Ertrag von mindestens zwei Arbeitstagen geopfert, um mich den leichtsinnigen Streich ihres Sohnes vergessen zu lassen. Ich will keinesweges behaupten, daß man außerhalb Frankreichs solchen zarten Zügen nicht begegnet, gewiß aber begegnet man ihnen in den unteren Volksclassen Frankreichs häufiger als anderswo.

Als ich nach dem jüngsten deutsch-französischen Kriege und der Unterdrückung der Commune, nach zehnmonatlicher Abwesenheit, wieder in Paris eintraf, fand ich in meiner Wohnung Alles, wie ich es verlassen. Selbst die Reste von Brennmaterialien hatte man unberührt gelassen. Da ich nun wußte, welche Leiden die Pariser während der Belagerung durch die ungewöhnliche Strenge des Winters auszustehen hatten, daß Mädchen und Frauen die frühen Morgenstunden unter freiem Himmel zubrachten, um ein Stückchen grünes Holz zu erhalten und sich dabei gefährliche Krankheiten und wohl gar den Tod zugezogen: da ich dies wußte, warf ich der Hausmeisterin vor, meinen kleinen Holzvorrath nicht für sich oder für Andere benutzt zu haben. Sie widerlegte jedoch meinen Vorwurf mit der Bemerkung, daß man sich unter keinen Umständen an fremdem Eigenthum vergreifen dürfe. Was ich nun bei dieser Gelegeheit erfuhr, erfuhren mit verhältnißmäßig unerheblichen Ausnahmen auch die anderen Deutschen bei ihrer Rückkehr nach Paris. Ich berufe mich auf diese meine Landsleute, die überhaupt in den vorliegenden flüchtigen Schilderungen keinen Widerspruch mit ihren eigenen Beobachtungen finden werden.




In der Bahnpost.


Die für Jedermann leicht verständliche Bezeichnung: Bahnpost, Post auf der Bahn, ist erst vor Kurzem an die Stelle des früheren Namens: Eisenbahnpostbureau, getreten. Die letztere Bezeichnung ist mithin einer jener Ausdrücke, mit welchen, als der Ausbreitung und Verallgemeinerung des Postinstituts zuwider, der Generalpostdirector Stephan kurzen Proceß gemacht hat. Es ist auffallend, wie sich Bezeichnungen, wie Declaration, Assecuranz, Procura, recommandirt, poste restante etc. eine so lange Zeit halten konnten in einer Verkehrsanstalt, deren Aufgabe es ist, sich dem ganzen Volke zugänglich zu machen, deren höchstes Ziel also sein muß, ein Volksinstitut im weitesten Sinne des Wortes zu werden.

Um nun einen Blick in den Hergang und das rege Treiben in der Bahnpost zu thun, wolle der Leser mich auf einer Fahrt von Berlin nach Breslau, auf welcher Route ich mehrere Jahre hindurch den Bahnpostdienst versehen habe, im Postwagen begleiten, und zwar wählen wir den elf Uhr Abends in Berlin abgehenden Courierzug, auf welchem die meiste Correspondenz zusammentrifft. Damit wir den Postwagen ungestört in Augenschein nehmen können, begeben wir uns schon gegen sieben Uhr in denselben, denn bald nachher findet sich bereits das Begleitungspersonal ein. Der Wagen besteht aus zwei Räumen; der erstere kleinere dient hauptsächlich für die Empfangnahme und Abgabe der Postsachen; der weit größere zweite Raum macht das eigentliche Expeditionszimmer aus und entspricht im Wesentlichen einem solchen bei einer Ortspostanstalt. Vor Allem machen sich mehrere große Sortirspinde mit einer Anzahl von Fächern bemerklich; wir zählen deren gegen hundertfünfzig, ungerechnet die viel größeren Fachwerke am Boden des Wagens, welche zur Aufbewahrung der angefertigte Briefbunde dienen.

Zu beiden Seiten des Wagens, an einer Stelle, welche dem Blicke des Sortirbeamten am meisten ausgesetzt ist, befindet sich je ein Briefkasten mit einer kleinen Glasthür, so daß die hineingelegten Briefe sogleich bemerkt werden müssen. Ein in einer Ecke abgestellter eigenthümlich construirter Ofen von Eisen strömt eine behagliche Wärme aus; ihm gegenüber ladet ein bequemer Eckstuhl zur süßen Ruhe ein, unter den hier obwaltenden Verhältnissen nicht ohne einen Anflug von Ironie. Die Erleuchtung des Wagens erfolgt durch Gas. Der Boden ist mit einem gegen Kälte von unten schützenden Teppiche belegt. Im Ganzen macht der Wagen einen gemüthlichen Eindruck. Das Begleitungspersonal besteht aus vier Beamten und zwei Unterbeamten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 706. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_706.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)