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verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Helene.
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)


Der Schreck raubte mir nahezu die Kraft, ihm auch nur ein Wort zu erwidern, und doch begriff ich, daß ich meine Besonnenheit nicht verlieren durfte.

„Wir sind hier ganz ungestört,“ sagte ich mit einer Stimme, deren Beben zu unterdrücken mir unmöglich war. „Kommen Sie in jene Fensternische! Es wird uns Niemand stören.“

Ich hatte, während ich sprach, meine Hände leise aus den seinigen gezogen; ich ging ihm voran, setzte mich auf einen kleinen Sessel in der erwähnten Nische und winkte meinem Begleiter, mir gegenüber Platz zu nehmen, aber er schien viel zu erregt dazu. Er wanderte ruhelos vor mir auf und ab und konnte sichtlich das befreiende Wort nicht finden. Was mochte nur vorgefallen sein, um ihn seiner gewohnten Selbstbeherrschung zu berauben?

„Was ist geschehen?“ begann ich nochmals. „Beruhigen Sie sich, mein Freund, und sagen Sie mir Alles!“

Er trat plötzlich zu mir, und über seine zuckenden Mienen glitt es wie ein flüchtiger Sonnenblick.

„Ihre Stimme schon,“ sprach er, „Ihre milde, ruhige Stimme ist wie das leise, besänftigende Wehen des Windes gegenüber dem tobenden Sturme, der alle Tiefen meiner Seele aufwühlt. Ja, Helene, ich will fügsam und geduldig sein wie ein Kind und Ihnen Alles berichten. Haben Sie nur ein wenig Nachsicht mit mir, denn wenn auch Sie – doch hören Sie! Kein unnützes Wort mehr!“

Er stand gegen das Fenster gelehnt. Sein Blick schweifte secundenlang über die melancholische Schneelandschaft hinaus, die sich jenseits der krystallklaren Scheiben kalt und todt ausbreitete. Er schien nach Fassung zu ringen.

„Sie können sich denken,“ fuhr er fort, die Augen langsam mir wieder zuwendend, „in welcher peinlichen Unruhe die letzten Tage mir hingegangen sind. Auch diesen Morgen durchschritt ich nach einer schlaflosen Nacht, müde im Herzen, mein Zimmer, als plötzlich die Thür hastig geöffnet wurde. Ich glaubte, der Hereintretende sei mein Diener, und hielt es kaum der Mühe werth, mich nach ihm umzusehen. Als ich es dennoch that – wie könnte ich Ihnen schildern, wie es mich durchfuhr! – stand mir gegenüber auf der Schwelle – Constantin Feodorowitsch.“

Noch jetzt, indem er den Namen aussprach, erblaßte Hirschfeldt. Ich preßte athemlos die Hand auf mein heftig klopfendes Herz und las ihm buchstäblich die Worte von den Lippen.

„Aber nicht der Constantin, den Sie kennen,“ setzte er seinen Bericht fort, „dessen schlanke Gestalt Sie stets nur in der gewähltesten Toilette gesehen haben, dessen schönes, kaltes Gesicht, wenn Sie es erblicken, nie die Maske gesellschaftlicher Convenienz fallen läßt. So wie er vor mir stand, zeigte sein Anzug alle Spuren der Unordnung und Vernachlässigung: das Halstuch fehlte trotz der Kälte ganz; sein Haar hing unfrisirt über die finster gefaltete Stirn herab; sein Antlitz legte Zeugniß ab von heftigen, kaum überstandenen Seelenkämpfen.

‚Mein Herr,‘ stieß er in eisigem Tone hervor, ‚ich habe nothwendig mit Ihnen zu reden.‘

‚Erklären Sie sich!‘ antwortete ich, gegen den mich innerlich lähmenden Schreck mühsam kämpfend.

‚,Nicht hier – ich muß vor jeder Störung sicher sein.‘“

„Ich öffnete,“ fuhr Hirschfeldt, in dessen Zügen sich alle Eindrücke der aufregenden Scene lebhaft widerspiegelten, fort, „ohne ein Wort der Erwiderung die Thür zu meinem Schlafzimmer, und als auf meine stumme Einladung Constantin es ablehnte, voranzuschreiten, that ich es. Mein unheimlicher Gast folgte mir und schloß hinter uns die Thür zu, schweigend ging er dann an den Tisch, zog aus seiner Tasche einen Revolver und legte ihn vor sich nieder.

‚Sehen Sie diese Waffe?‘ sagte er immer noch mit seiner entsetzlichen Ruhe. ‚Jeder Lauf derselben ist mit zwei Kugeln geladen, und ich gebe Ihnen mein Wort: Einer von uns Beiden wird nicht lebend das Zimmer verlassen, wenn Sie sich weigern, das zu thun, was ich von Ihnen verlange. Aber seien Sie ruhig!‘ fügte er mit einem seltsamen Heben der Lippen hinzu, ‚ich werde nicht Sie erschießen, sondern mich, und man wird meinen Leichnam hier, in ihrer Wohnung finden.‘“

Der Erzählende hielt einen Augenblick, wie um Luft zu schöpfen, inne. Jeder Blutstropfen hatte, indem Hirschfeldt das Geschehene gleichsam noch einmal durchlebte, sein Antlitz verlassen; seine Hände ballten sich zuckend. „Sie müssen zugeben, daß der Plan mit teuflischer Berechnung ersonnen war,“ begann er seinen Bericht auf’s Neue, „und ich las in den Zügen des bleichen Mannes vor mir, der seine schlanke, weiße Hand keinen Augenblick von der Mordwaffe entfernte, daß er ihn buchstäblich zur Wahrheit machen würde.

‚Was wollen Sie von mir?‘ fragte ich entsetzt.

‚Ich weiß jetzt Alles,‘ sagte Constantin. ,Wéra hat mir Alles bekannt. Lesen Sie!‘

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1875, Seite 729. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_729.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)