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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

„Bis hierher war Constantin in seinem Berichte gekommen, als es mir unmöglich wurde, ihn nicht zu unterbrechen. ‚Wie?‘ rief ich aus, meiner innersten Empörung Worte leihend, ‚man wird die Hand Ihrer Schwester dem Elenden geben, der sie durch eine ehrlose Pflichtverletzung erkaufen will?‘

Der Rittmeister trocknete die feuchten Perlen von der Stirn und: ‚Es muß sein,‘ erwiderte er. ‚Es giebt keine andere Rettung. Der Abgrund gähnt zu unseren Füßen, und die Heirath ist vollkommen passend. Luschinoff steht Wéra an Rang und Vermögen gleich; er liebt sie leidenschaftlich – warum sollte sie nicht glücklich werden neben ihm?‘

‚Und Ihre Schwester?‘ rief ich fast außer mir; ‚weiß sie um den schmählichen Handel?‘

Es entging mir nicht, wie meine Worte Constantin verletzten, aber ihm das zu ersparen, war mir unmöglich; er hatte durch die Logik seiner Auseinandersetzungen über das Glück Wéra's zu sehr mein Gefühl empört. Aber leidenschaftslos theilte er mir mit, wie er seit langer Zeit seine Schwester insoweit zur Mitwisserin des Geheimnisses gemacht, als er sie eine die ganze Familie bedrohende Gefahr ahnen ließ, die sie durch ihre Heirath abwenden solle und müsse. Sie hatte sich in Verzweiflung gegen die Zumuthung gewehrt, aber seit gestern war das anders geworden. Ihre Krankheit, die Nähe des Todes, der Zuspruch des Priesters hatten sie weich und schwach gemacht oder, wie Constantin sich ausdrückte, ihr die Besinnung zurückgegeben. Zudem mochte dessen Sorge und Angst um sie das müde gequälte Herz gerührt haben – genug, die Geschwister hatten sich unter einander verständigt.

Wéra, fast noch vom Fieber geschüttelt, zum Tode matt, versprach ihrem Bruder Alles, nur schwebte immerwährend wieder mein Name auf ihren Lippen. Das Wort, das sie mir gegeben, ängstigte sie; ihre Briefe befanden sich in meinen Händen, – da war Constantin fortgestürzt, um ihr Beides und damit den Frieden und die Beruhigung, ohne welche sie nicht genesen könne, wieder zu verschaffen – um jeden Preis.

Die Briefe hat das Feuer vor seinen Augen verzehrt, und jetzt beschwor er mich, auch Wéra’s Seele zu befreien, indem ich selbst jedes bindende Versprechen ihr zurückgebe. Es überlief mich bald heiß, bald kalt, und mein Kopf brannte fieberhaft.

‚Constantin Feodorowisch,‘ sagte ich ihm, und ich hätte es um die Welt nicht hindern können, daß meine Stimme einen gebieterischen, vielleicht sogar drohenden Ton annahm. ‚Prüfen Sie wohl Ihr Herz, und gestehen Sie sich selber ein, wie viel von Ihrer Schwester Entschluß Sie der Ueberredung und Drohung verdanken! Sind Sie sicher, daß dieselbe Ihnen nicht eines Tages fluchen wird für die That dieses Morgens?‘

Wéra’s Bruder schüttelte den Kopf. ‚Als Mann von Ehre wenigstens haben Sie mich kennen gelernt, und als solcher will ich Ihnen antworten,‘ erwiderte er. ‚Ich habe meiner Schwester ein Bild vor Augen geführt von der Zukunft, die ihr bevorsteht, wenn sie bei ihrem früheren Widerstande gegen die Verbindung mit Luschinoff beharren sollte, von der Zukunft ohne die Stellung in der Gesellschaft, die sie einzunehmen gewohnt ist, ohne Rang, Reichthum und Ehre, und sie hat schaudernd den Blick davon abgewendet. Begreifen Sie denn nicht, daß Wéra in ihrer Schönheit und Lieblichkeit nur gedeihen kann im Sonnenschein des Ueberflusses? Den rauhen Stürmen des Lebens preisgegeben, würde sie bald entblättert und verwelkt dahinsterben.‘

So sprach Constantin. Mechanisch griff ich nach einem Blatte Papier, welches neben mir lag, und ebenso mechanisch fast schrieb ich einige Worte des Abschiedes an Wéra darauf. Ich gab es ihrem Bruder und sagte ihm. ‚Ihre Schwester ist vollkommen frei. Sollte ich im Leben ihr wieder begegnen – kein Wort oder Blick wird sie an die Vergangenheit mahnen.‘

Mein seltsamer Gast nahm hastig das Blatt und athmete auf, wie von Bergeslast befreit, dann hielt er mir seine Hand entgegen. ‚Mit Haß im Herzen bin ich zu Ihnen gekommen, und nun ich gehe, besitzen Sie meine Achtung – wenn Sie wollen, meine Freundschaft,‘ sagte er.

Ich nahm schweigend die dargebotene Hand, aber erwidern konnte ich ihren Druck nicht. Nie im Leben hatte ich so deutlich gefühlt wie in jenem Augenblicke, welch eine tiefe, tiefe Kluft mich von ihm trennt für immer und ewig, und als die Thür sich hinter seiner hohen Gestalt wieder geschlossen hatte, als ich allein stand inmitten des Zimmers, da mußte ich mich selber fragen, ob das Erlebte Traum oder Wahrheit sei. Ich griff mit der Hand an die Stirn, bemüht, den verwirrten Gedanken da drinnen wieder eine bestimmte Richtung zu geben, aber sie wollten mir nicht gehorchen. Ich prüfte auf- und abwandernd meinen Schritt, ich sah auf jeden bekannten Gegenstand rings um mich her – Alles war dasselbe geblieben und nur ich ein Anderer geworden. War ich nicht ein Feigling, der sich gewaltsam hatte entreißen lassen, was er noch vor nicht gar langer Zeit sich vermaß, der ganzen Welt abzutrotzen? Warum nur mußte auch Constantin ein so feiner Kenner des menschlichen Herzens sein, daß er die tödtliche Waffe nicht gegen meine, sondern gegen die eigene Brust zu richten drohete? Ich würde seiner Kugeln gespottet und lachend Leben gegen Leben gesetzt haben. Ja, lachend – der Tod würde mir in diesem Augenblicke nur ein erlösender Freund gewesen sein, der aller Qual ein willkommenes Ende gemacht hätte.“

Hirschfeldt schwieg. Er ging auf und ab und fuhr hin und wieder mit der Hand durch die langen verwirrten Haare. Seine letzten Worte erschienen mir wie nur unwillkürlich laut ausgesprochene Gedanken; ja, ich begann zu glauben, daß er meine Gegenwart gänzlich vergessen habe, als er plötzlich wieder vor mir stehen blieb und seine Augen auf mich richtete. Ich fuhr zusammen vor dem Ausdrucke qualvoller Unruhe, der mich aus ihrer dunkeln Tiefe fast hülfesuchend anschaute.

„Helene,“ sagte er, und seine Stimme klang so weich, fast gebrochen, daß sie wie ein fremder Ton mein Ohr berührte, „ein verschmähter, abgesetzter Liebhaber bin ich heute vor Ihnen erschienen. Ein Gegenstand, den man als abgenutzt bei Seite geworfen hat. Und wissen Sie, was dabei das Schlimmste ist, was meine Seele gänzlich ihres Gleichgewichts beraubt hat?“ Er neigte, da er meine bestürzte Miene sah, das Haupt näher zu mir und fügte leiser, kaum verständlich, hinzu: „Es ist das niederschmetternde Bewußtsein, mein Schicksal verdient zu haben. Hätte Constantin mir auf Ehre und Gewissen die Frage vorgelegt, ob ich die feste Ueberzeugung noch in mir trage, daß ich seine Schwester glücklich machen könne, ich hätte sie mit – ‚Nein!‘ beantworten müssen. Da ist’s heraus, und nun schauen Sie mich nicht mit so erschrockenen Blicken an! Ich rede nicht irre. Ich bin vollkommen gesund, körperlich wenigstens, und weiß, was ich sage. Der Sturm, der in den letzten Stunden die Tiefen meiner Seele aufgewühlt hat – er reinigte wenigstens die Luft nach all’ der schwülen Gewitterstille der letzten[WS 1] Wochen und gab mir Klarheit, vollkommene Klarheit zurück.“

Ich wollte ihm beruhigend zureden, ihn bitten, zu versuchen, dieser Aufregung, die ihn verzehrte, Herr zu werden, aber seine Worte hatten auch in mir einen solchen Sturm erweckt, daß ich den rechten Ausdruck nicht finden konnte, und immer wieder mochte er in meinen Blicken die unausgesprochene Frage lesen, die, mir das Herz bedrückend, doch nicht den Weg über meine Lippen fand.

„Verlangen Sie jetzt keine Auseinandersetzungen mehr von mir!“ sagte er düster und hielt mir seine Hand hin. „Lassen Sie mir die beglückende Hoffnung, Helene, daß wenigstens Ihre Achtung mir noch geblieben ist, daß ich den Glauben daran mit mir fortnehmen kann!“

„Fort?“ wiederholte ich entsetzt. „Sie wollen fort von hier, von Woronesch?“

„Ja, je eher, desto lieber!“ antwortete Hirschfeldt. „Ich habe soeben schon mein Urlaubsgesuch eingereicht. Die Mauern dieser Stadt erdrücken mich. Hinaus muß ich, andere Luft athmen, andere Menschen sehen, wenn ich nicht an mir selbst verzagen soll.“

„Aber wohin werden Sie gehen?“

„Ich weiß es nicht und habe noch kaum ernstlich darüber nachgedacht,“ lautete seine Antwort. „Vielleicht wende ich mich zuerst nach Petersburg. Bestimmt kann ich es nicht sagen; Sie wissen, ich habe oft Aufforderungen gehabt, dahin zu kommen. Aber, nicht wahr, Helene, die Hoffnung bleibt mir doch, daß, wenn ich eines Tages als ein anderer Mensch zurückkehre, ich Sie hier wiederfinde?“

Groß, ängstlich und fragend blickte er mich an, und ich fühlte, wie sich mir jeder Blutstropfen zum Herzen drängte, als

Anmerkungen (Wikisource)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_731.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)