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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

müsse ich daran ersticken. Ich versuchte zu lächeln, um meinen tödtlichen Schmerz darunter zu verbergen, und hatte doch kaum Kraft zu der langsamen, matt klingenden Erwiderung: „Das glaube ich kaum. Ich fürchte, die Verhältnisse hier werden sich auch für mich unerträglich gestalten.“

„Aber, mein Gott,“ rief Hirschfeldt erschrocken, „wenn Sie Woronesch verlassen, wo soll ich Ihre Spur wiederfinden? Wohin – Sie werden mir doch gestatten, daß ich Ihnen schreiben darf, nicht wahr? – wohin soll ich meine Briefe richten?“

„Bei den Herren Otto Bamberger und Comp. in Moskau werden Sie immer meine Adresse erfahren können, oder die Herren werden Briefe für mich in Empfang nehmen. Sie erinnern sich doch, daß ich Ihnen einmal mittheilte, bei meiner Übersiedelung nach Rußland sei ich an diese Geschäftsfreunde meines Bruders empfohlen worden und habe auch einige angenehme Tage in der Familie des älteren Bruders verlebt, bevor ich meine Reise nach Selo-Lazowoskaja antrat?“

Hirschfeldt nahm eilend seine Brieftasche heraus, notirte sich hastig die Adresse und dann – er sah mich so seltsam wie noch nie an. Ich glaubte, er wollte mir etwas sagen, plötzlich aber ergriff er meine beiden Hände, bedeckte sie mit Küssen und in der nächsten Minute schon war er fort, hinausgestürmt. Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe, sank auf den nächsten Sessel und verharrte in einem Zustande dumpfer Betäubung.

Wie lange ich so zugebracht, ohne zu denken, ohne zu hoffen oder zu fürchten, immer im Geiste nur das eine Wort mir mechanisch wiederholend: „Er ist fort“ – ich weiß es nicht, aber als ich wieder zu mir kam, waren die Kerzen, die den Saal erleuchteten, tief herabgebrannt.

Es herrschte beinahe Finsterniß um mich und empfindliche Kälte. Ein Frösteln überlief mich; ich zog den großen Shawl, in den ich vorhin eingehüllt gewesen, dicht um meine Schultern und kehrte in die bewohnten Räume des Hauses zurück. Auf dem Corridore begegnete mir Olga Nikolajewna, und ihre glänzend blauen Augen richteten sich im Halbdunkel des Ganges so funkelnd und lauernd auf mich, daß ihre geschmeidige, leicht und geräuschlos an mir vorüber huschende Gestalt mich unwiderstehlich an ein gewisses sammetfüßiges, im Rufe der Falschheit stehendes Hausthier erinnerte. Ich nahm gar keine Notiz von ihr und hatte das deutliche Bewußtsein, daß all ihr Thun und Treiben mir unsäglich gleichgültig sei, seit die beiden Menschen, deretwegen ich ihre Intriguen gefürchtet, dem Bereiche derselben entrückt waren.

Als ich, den Salon betretend, Zenaïde Petrowna’s gelangweiltes und übellauniges Gesicht vor mir sah, mußte ich mit Verwunderung mir die Zeit in’s Gedächtniß zurückrufen, in welcher dieses Stirnrunzeln mich erschreckt hatte. Nach Allem, was ich heute erlebt und erfahren, schien jene Zeit in nebelgrauer Ferne hinter mir zu liegen. Die verächtliche Weise, in welcher die Dame geruhte mich zu behandeln, machte nicht den geringsten Eindruck auf mich. Aber es war mir doch eine Erleichterung, endlich, wenn auch erst spät am Abende, mein Zimmer betreten und durch das Aufschreiben des Erlebten meine Seele einigermaßen von ihrer Unruhe befreien zu können.


Den 9. Februar.

Vierzehn Tage sind nahezu vergangen, seit ich diesen Aufzeichnungen das letzte Wort hinzufügte. Warum hätte ich schreiben sollen? Nichts irgend Erwähnenswerthes hat sich seitdem zugetragen; ein Tag schlich langsam nach dem anderen dahin. Der heutige war insofern für mich wichtig, als er über mein Schicksal hier entschieden hat. Ein Entschluß, den ich schon längere Zeit mit mir herumgetragen, ist endlich heute zur Ausführung gekommen: ich sagte Madame Branikow, daß ich ihr Haus zu verlassen wünsche, sobald ich eine passende Reisebegleitung nach Moskau gefunden habe. Man löst hier in Rußland dergleichen Verhältnisse sehr schnell, ohne viele Umstände und ohne sich an gewisse Zeit zu binden.

Erstaunt sah die Dame mich an. Sie muß also doch nicht geglaubt haben, daß ich das erste Wort in dieser Sache sprechen würde, um einem Verhältniß ein Ende zu machen, welches mehr und mehr unhaltbar wurde. Da ich nach wie vor mich bemüht, meine Pflicht zu thun, mag sie geglaubt haben, ich wolle bleiben, aber das war eine Täuschung.

Seit Zenaïde Petrowna in Gemeinschaft mit Olga sich einer unehrenhaften Handlung schuldig gemacht, seit sie meinen Brief unterschlagen hat, beherrscht die Letztere sie, besitzt vollständig ihr Ohr und träufelt demselben einen Tropfen Gift nach dem andern ein. Dabei habe ich längst die zweifellose Gewißheit, daß sie hinter dem Rücken seiner Gemahlin ein Verhältniß mit Iwan Alexandrowitsch unterhält, welches zu verbergen sie sich übrigens sehr wenig Mühe giebt. Daß die häuslichen Verhältnisse mir unter solchen Umständen täglich unerträglicher werden, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Ich räume Olga das Feld; mag sie den Triumph genießen, der mir den ganzen Abend heute aus ihren Augen entgegenfunkelte. Ich habe dem älteren Herrn Bamberger geschrieben, und nachdem er mir geantwortet, daß er und seine Frau mich erwarten, daß sie mich bäten, bis anderweitig ein passendes Engagement für mich gefunden sei, ihr Haus als das meinige zu betrachten, habe ich diesen Morgen mit kühler Ruhe Madame meinen Entschluß mitgetheilt. Anfangs, wie gesagt, verrieth ihre Miene Erstaunen, und dann, als ich sie wiedersah, suchte sie auf alle Weise eine gewisse Befriedigung zur Schau zu tragen und überhäufte Olga mit Liebenswürdigkeiten.

Ich kann nicht beschreiben, wie gleichgültig mich das Alles läßt. Nichts in meiner Umgebung erregt mir ein Gefühl des Bedauerns, wenn ich bedenke, daß ich davon scheiden muß; einzig der Abschied von Masche wird mir nicht leicht werden.

Und Wéra? – Arme Wéra! – Sie ist in ihrer Genesung so weit vorgeschritten, daß in einigen Tagen ihre Verlobung gefeiert werden soll. Madame Adrianoff ist etwa vor einer Woche zurückgekehrt und hat sogleich die Verbindung ihrer Tochter mit Herrn Luschinoff bekannt gemacht. Kein Mensch hat eine Ahnung, welch’ eine Tragödie bei dieser Verlobung hinter den Coulissen spielt, und weil Niemand die Wahrheit kennt, sind die unsinnigsten Gerüchte über Wéra’s Krankheit und Verlobung in Umlauf. Eine Tochter ihres Landes und Standes, deren Vorurtheile doch schließlich auch die ihrigen sind, wird sie die goldene Kette tragen müssen bis an’s Ende; möge ihr dieselbe den Nacken nicht zu wund drücken! Das ist das Einzige, was ich für sie wünschen und hoffen kann.

(Fortsetzung folgt.)




Federzeichnungen aus Oesterreich.[1]

1. Der Wiener Prater.

Der Prater ist dem Wiener an’s Herz gewachsen, und wollte man ihm seinen Prater nehmen, es bliebe sicher ein Stück von seinem Herzen daran hängen.

Was für Paris das Boulogner Gehölz, das ist für Wien der Prater; er ist so weltberühmt wie jenes und steht ihm an Schönheit nicht nach, wie vielleicht überhaupt keinem Parke der Welt. Von der Stadt aus gelangt man zu ihm durch die Praterstraße, früher Jägerzeile, die belebteste Straße des zweiten Bezirkes von Wien, der Leopoldstadt, und nächst der Ringstraße und der Mariahilfer Hauptstraße die längste, breiteste, imposanteste Straße von Wien überhaupt. Sie mündet in den Praterstern, einen ungeheuren Platz, der gleichsam den Vorhof des Praters bildet, der sich von ihm in westlicher Richtung in die unabsehbare Ferne dehnt. Der Praterstern ist ein Ausgangs- und zugleich wichtigster Knotenpunkt für den Verkehr der Omnibusse und der Pferdeeisenbahn, deren Schienen das Pflaster nach allen Richtungen hin durchschneiden. Strahlenförmig strecken sich von diesem Platze aus sieben Straßen in die

  1. Mit dem gegenwärtigen Artikel eröffnen wir eine Reihe von illustrirten Skizzen aus den österreichischen Ländern. Sowohl was den illustrativen wie den textlichen Theil anbelangt, haben wir für tüchtige Kräfte Sorge getragen. D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 732. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_732.jpg&oldid=- (Version vom 22.10.2022)