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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Luft der Zeit; die jungen Richtungen der Alterthumsforschung hatten ihn schon zu lichtvoller Geltung gebracht in Bezug auf die wunderhaften Geschichts- und Religionsbücher der altclassischen Völker und zum Theil auch des Alten Testamentes. An die neutestamentlichen Erzählungen von der Geburt, dem Leben, dem Tode Jesu aber, von seinen Wunderthaten, seiner Auferstehung und Himmelfahrt hatte sich eine solche historische Kritik noch nicht mit durchgreifendem Blicke herangewagt; es war das noch ein ganz apartes, mit eigens dafür geschliffener Brille angesehenes Bereich von Geschichten, an dem zwar endlos herumgedeutelt wurde, von dem eine ungläubige Frivolität vornehm sich abwendete, das ein befangener Freisinn der verständigen Auffassung möglichst annehmbar zu machen suchte, dessen Ursprung und Entstehungsart jedoch bis zu Strauß kein Deuter entziffert, von dem noch kein bisheriger Erklärer gesagt hatte: gewiß, hier ist ein heiliger Boden, aber der heilige Boden religiösen Anschauens, menschlichen Dichtens, ein erhabenes Phantasiegebilde des erlösungsbedürftigen Menschengemüths. Nicht ein von Einzelnen willkürlich erfundenes und gemachtes, sondern ein dem Volksgeiste entsprossenes Gebilde, eine poesievolle Wiederspiegelung der Lebensgeschichte und des Bildes Jesu, wie es lange nach seinem Tode die begeisterte Gemeinde sich gedacht und, den kindlichen Begriffen jener Zeit gemäß, reich mit Wunderkräften und überweltlichen Vorgängen, mit aller Verherrlichung einer anbetungsbedürftigen Liebe ausgestattet hatte.

Das hatte Strauß gesagt, und von Bedeutung schon wäre es gewesen, wenn das Aufleuchten dieser einfachen, jetzt den Gebildeten so geläufigen und doch damals so neuen Entdeckung nur in einer kurzen und schlagenden Gedankenfolge sich angekündigt hätte. Strauß aber war nicht mit einer hingeworfenen Behauptung aufgetreten, er bewies seine Auffassung, bewies sie mit unbeugsamer und unwiderstehlicher Consequenz, und es war natürlich, daß er damit tief hineingreifen mußte nicht blos in das Gedankenleben, sondern auch in die wirklichen Verhältnisse einer noch halb traumhaften, aber zu Entscheidungen sich spitzenden, des Erweckungsrufes gewärtigen Epoche. Die Folgen ergaben sich von selber, ohne daß er sie beabsichtigt und berechnet hatte. Auf der Unantastbarkeit der evangelischen Berichte ruhte ja die Autorität des sogenannten „positiven“ Kirchenglaubens, auf diesem Glauben die gebietende Macht der Priester- und Theologenkirche. Aus der Kirche aber und ihren von oben her decretirten, den Gewissen aufgenöthigten Glaubenssätzen hatte wiederum der absolutistische Polizeistaat sich eine Art geistiger Unterlage zurecht gemacht, aus der er sein „Recht“ herleitete, kraft deren er als „göttliche und von Gott so gewollte Ordnung“ sich hinstellte, und jeden Widerspruch oder Widerstand gegen sich als Empörung wider Gott und sein „Wort“ bezeichnete.

Es war eine fest in sich verschlungene und geschlossene Kette gegenseitig sich helfender und ergänzender Bedrückungen zum Vortheile einzelner Personen und Stände, ein System, das nicht blos äußerlich das Volk regierte, sondern dessen Geist auch durch die Erziehung den Geschlechtern in die Seelen geimpft wurde, so daß sein Einfluß mehr oder weniger auch die Gewohnheiten der Menschen bestimmte, mehr oder weniger auch die Klarheit ihres Blickes trübte, mehr oder weniger als eine lähmende und hemmende Schranke auch vor dem denkenden Erkennen der Beherrschten stand. Von Strauß ist diese Schranke durchbrochen worden. Absehend von allem Herumzerren an den fühl- und sichtbaren Folgerungen der hergebrachten Regierungweise, war er bis zu dem Kern derselben, bis zu den geschriebenen Grundlagen der Staatsreligion, des Glaubens an übermenschliche Einsetzungen und Offenbarungen vorgedrungen, hatte er diese Grundlagen als eine Glaubensdichtung nachgewiesen – als eine Glaubensdichtung, die zwar eine der tiefsten und ehrwürdigsten Blüthen der Vorzeit sei, die zwar große und erhabene Lehren, ewig gültige Wahrheiten in sich trage, deren sagenhafte Einkleidungen, Vorstellungen und Mittheilungen aber nur der Geschichte der Mythologie, der Religionsgeschichte an einem bestimmten Punkte ihrer Entwickelung angehören und nicht mehr bestimmend und begrenzend sein können für das Denken, Forschen und Leben der heutigen Menschheit.

Indem Strauß also die ungeheure, mit allen Künsten mühseliger Auslegung und Umhüllung nicht zu verdeckende Kluft zeigte zwischen dem Gesichtskreise der biblischen Erzähler und der ganzen Weltanschauung unserer beinahe zweitausend Jahre älteren Gegenwart, hatte er, ohne das zu beabsichtigen, nicht blos die Axt an die Stütze des bestehenden weltlichen und geistlichen Bevormundungsregiments gelegt – denn das war oft schon geschehen – , sondern er hatte diese Stütze bereits durchschnitten. Eine Grundsäule der willkürlichen Gewalt, die angebliche „Göttlichkeit“ ihres Rechtstitels, war vor dem Auge der fortschreitenden Wissenschaft zu einem haltungslosen Schatten verflüchtigt, und nur noch eine Frage der Zeit konnte das Wanken und der Zusammensturz dieses volkswidrigen Gebäudes sein, da es fortan noch als eine grundlos bestehende Thatsache mit äußerer Gewalt sich behauptet konnte. Wo die Forschung die überirdische Herkunft von hohen Götterbildern so erfolgreich bestritt, welche eine inhumane Herrschsucht in ihren Dienst gezogen und zu Scheuchpuppen für das Volk gemacht, da konnte es nicht fehlen, daß ein solcher Vorgang den Muth entzünden und den „beschränkten Unterthanenverstand“ antreiben mußte, nun auch die sichtbaren Erdengötter und die von ihnen geschaffenen Einrichtungen nach ihrer Existenzberechtigung zu fragen. Mit scharfem Morgenhauche war ein Geist entschiedener Kritik, einer unerbittlich auf den Grund der Dinge gehenden Untersuchung erweckt, der über das Feld der Theologie hinaus verjüngend und belebend in alle mit dem Staats- und Gesellschaftswesen zusammenhängenden Gebiete des Wissens drang und durch alle Maßregelungen nicht wieder zu ertödten war. Eine neue Sprache erklang nun bald aus den Werkstätten der Wissenschaft, eine neue Weise kühnen Urtheilens, ein neuer, frisch und doch warm aus den Herzen quellender Ton des Angriffs gelangte in der Literatur zur Geltung. Im Jahre 1835 war das streng gelehrte Buch von Strauß erschienen; von 1838 an hatten es die Bundestagsregierungen und die gesammte deutsche Reactionswelt in Ruge’s „Halleschen“ und „Deutschen Jahrbüchern“ schon mit einer Gedankenbewegung zu thun, welche sodann in der Revolution von 1848 als eine Macht ihnen gegenübertrat und seitdem nicht wieder gestorben ist. Das hatte das gesunde Lebenslicht deutscher Forscher- und Denkerarbeit in einer Epoche vollführt, wo man das Leuchten ihm verbieten, es in die engsten Wege zwängen, aus ihm den zitternden Diener eines kleinlichen und anmaßenden Despotismus hatte machen wollen.

Im ersten Augenblicke freilich, das heißt in den ersten Jahren nach dem Erscheinen des Buchs, war der Eindruck der Strauß’schen Beweisführung nur ein Eindruck bestürzter Ueberraschung auf der einen, des Zorns und Entsetzen auf der andern Seite. Man fühlte den schneidigen Hauch, der von dieser Forschungsweise aus ein Altes und Liebgewordenes erbarmungslos von dannen fegte, nicht aber auch sofort die dahinter sich regende, jung und lebenswarm aus tiefster Innerlichkeit strömende Erlösungskraft eines neuen Freiheits- und Humanitätsbewußtseins, das hier durch Abrechnung mit der Vergangenheit ein großes Hinderniß sich aus dem Wege räumte. Der Schlag war so jäh gekommen; wie ein Blitzstrahl war er plötzlich in die geistige Welt herniedergefahren; keine Ankündigung, keine der Reclamen und wiederholten Journalnotizen, wie sie heutzutage üblich sind, hatte darauf vorbereitet und die Gemüther in Spannung versetzt. Und Niemand kannte diesen Autor außerhalb des Kreises seiner nächsten Umgebungen, ohne die gebräuchlichen Vorspiele war er fix und fertig mit einer Leistung auf den Platz getreten, von der jeder Kenner sich sagen mußte, daß allein die dazu gehörigen Studien das volle Leben eines Mannes auszufüllen vermöchten. Wer war er, wo weilte er? So frug man längere Zeit hindurch namentlich in Norddeutschland. Nur wenige wußten es und diese gaben keine Auskunft. Nachdem Strauß das entdeckte Geheimniß der mythenbildenden Volksphantasie auf die religiösen Urkunden des Christenthums angewendet hatte, gerieth er selber in die Lage, ein Gegenstand der Legende zu werden. Und sie war nicht geneigt, ihre Sagen zu seinen Gunsten zu dichten. Gab es doch nicht gar Viele in dieser verzagten und kleinmüthigen Zeit, die zu dem Glauben sich erheben konnten, daß ein so schonungsloser Riß von innerlichen und sittlichen Beweggründen aus erzeugt sein könne, und zwar von den reinsten, die es giebt, von dem Drange des Gewissens und der Wahrheitsliebe.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 738. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_738.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)