Seite:Die Gartenlaube (1876) 067.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

Da durch deren ferneren Dienst Gefahren unvermeidlich waren, wurden dieselben pensionirt. Ein anderer Arzt fand unter zweihundert deutschen Eisenbahnbediensteten die Farbenblindheit sieben Mal. Professor Dor in Bern hat bei einer speciell auf Farbenblindheit gerichteten statistischen Untersuchung unter achthundert Personen gegen fünfzig Farbenblinde gefunden, wonach etwa der sechszehnte Mensch betroffen wäre.

Die heutige medicinische Wissenschaft steht auf dem einzig richtigen Standpunkte der Verhütung der Krankheiten. Die Aerzte halten sich zum größten Theile – so denken wir – nicht mehr für lebensrettende Götter, sondern sie sind auf Grund der großartigen Errungenschaften der Chemie und Physik zu vorsorglichen Hütern der Gesundheit ihrer Pflegebefohlenen geworden, und so wurde die öffentliche Gesundheitspflege geschaffen, eine Wissenschaft, die, obwohl noch in ihrer Kindheit, schon jetzt großen Segen über die Menschen gebracht hat. – Wenn Menschen durch irgend ein Leiden bei Ausübung ihres Berufes materielle Interessen des Publicums zu schädigen im Stande sind und die Gesundheit und das Leben der Staatsbürger zu gefährden oder gar zu vernichten Veranlassung geben können, so ist die öffentliche Gesundheitspflege verpflichtet, dieses wichtige Thema in den Kreis ihrer Behandlung zu ziehen.

Es hat zwar der preußische Handelsminister in einer Rede über eine Eisenbahnfrage die Behauptung ausgesprochen, daß die Zahl der Unglücksfälle auf den deutschen Bahnen sich vermindert habe, jedoch ist dies immer noch nicht in dem Grade der Fall, daß die Aufmerksamkeit der Behörde nicht unausgesetzt auf diesen Gegenstand gerichtet sein müßte. Der oben auseinandergesetzte Krankheitszustand des menschlichen Auges kann, wie geschildert, für Locomotivführer, Heizer, Weichensteller und Stationsvorsteher in Ausübung ihres Berufs sehr bedenklich werden. Solche Beamte müssen Signale, die sich durch verschiedenartige Farben kenntlich machen, genau unterscheiden können, und auf den meisten Bahnen sind die rothen Signalscheiben und rothen und grünen Lichter ganz besonders im Gebrauche. Wie leicht bei theilweiser Farbenblindheit eines solchen Beamten Unglücksfälle von weittragender Bedeutung sich ereignen können, ist begreiflich, und sind auch derartige Fälle leider schon vorgekommen. Ebenso wie das Eisenbahnpersonal müssen Seeleute, Schiffscapitaine und Lootsen, welchen Personen die gewissenhafte Unterscheidung farbiger Signale obliegt, auf die geschilderten Verhältnisse aufmerksam gemacht werden. In dem Gesundheitszeugnisse des Eisenbahn- und Schiffspersonals ist demnach ein Passus über die Güte des Gesichtssinnes in Bezug auf Farbenunterscheidung, durch speciellen Vermerk, nach sorgfältiger Prüfung mittelst des Spectroskops, unvermeidlich einzutragen. Jeder Eisenbahnarzt und jeder Schiffsarzt müssen verpflichtet werden, sich die optischen Kenntnisse, welche zu den bezüglichen Untersuchungen unumgänglich nothwendig sind, anzueignen. Eine Spirituslampe, einige Metallsalze und ein kleines Taschen-Spectroskop, wie solches für den billigen Preis von circa zehn Thalern zu haben ist, würde zur Untersuchung vollkommen genügen. Solche Instrumente liefert der berühmte Optiker Steg zu Homburg im Taunus in vorzüglicher Güte. Man nimmt diesen netten kleinen Apparat, der im Ganzen nur circa drei Zoll lang und etwa sieben Linien breit ist, wie ein Fernglas zur Hand; es bietet dessen Benutzung nicht nur für wissenschaftliche Untersuchungszwecke, sondern auch zur Selbstbelehrung eine willkommene Gelegenheit.

Durch eifriges Vorgehen der Staats- und Privatbahn-Directionen sollte nun recht bald dafür Sorge getragen werden, daß alle Personen, welche sich dem bezüglichen Dienste zu widmen beabsichtigen, sowie alle schon im Dienste stehenden auf die Farbenunterscheidung untersucht werden; solche Untersuchungen sind, da das Erkennen der Farbenunterschiede manchmal bei übermäßigem Spirituosengenuß, nach gewissen Krankheiten, und besonders nach heftigen Gehirnerschütterungen Einbuße erleidet, alljährlich zu wiederholen; nach Verletzungen ist, sofort nach der Reconvalescenz, der Betroffene auf Farbenempfindung zu prüfen. Bis jetzt ist in Deutschland unseres Wissens nur eine Eisenbahndirection, die der Bergisch-Märkischen Bahn, auf die Gemeingefährlichkeit möglicher Farbenblindheit unter ihren Beamten aufmerksam geworden und hat an die in ihrem Bezirke angestellten Bahnärzte das Ansuchen gestellt, sich über die in Rede stehenden Verhältnisse zu äußern und über die Methode sich auszusprechen, nach welcher am schnellsten und sichersten die Farbenblindheit beim Eisenbahnpersonal erkennbar sei; ein Congreß der Bergisch-Märkischen Eisenbahnärzte soll zu diesem Zwecke demnächst stattfinden.

Möge durch obige Auseinandersetzungen nach mancher Seite hin Anregung zur Erledigung dieser wichtigen, mit dem Wohl und Wehe der Menschheit so innig verknüpften Frage gegeben sein, damit durch die Lehren vom Lichte immer mehr und mehr Aufklärung und Erleuchtung in alle Verhältnisse des bürgerlichen und socialen Lebens eindringe! – Durch das Licht zur Wahrheit, durch die Wahrheit zur Erkenntniß, durch die Erkenntniß zu Gesundheit und Volkswohlfahrt!

Frankfurt a. M.

Dr. med. S. Th. Stein.




Im Reiche der Mitte.


Von F. Deichmüller.


Es war am Morgen des 10. October; blutroth entstieg eben die Sonne dem Meere, und ihre ersten Strahlen beleuchteten die nordöstlich am Horizonte auftauchenden Rocks, die, in immer größeren Gruppen sichtbar werdend, uns die Nähe des Festlandes verkündeten. Freudiger denn je begrüßten wir heute die ersten Spitzen des Landes, denn hinter uns lagen die weiten tropischen Länder, durcheilt waren die endlosen Meere; der letzte Hafenplatz vor Erreichung chinesischer Gewässer, das auf der Südspitze von Malakka gelegene, von herrlicher tropischer Vegetation rings umgebene Singapore, war längst verlassen, und vor uns lag das Ziel unserer Reise, der deutschen Reichsexpedition[1] nach China.

War auch unser Stationsort in einem nördlicheren Theile Chinas gelegen, so sollte uns doch heute der erste Blick gestattet sein in das der Welt so lange verschlossen gebliebene, erst unserer Generation zugänglich gemachte Land des Orients, mit seinen conservativen, sich den Einflüssen moderner Cultur scheu entziehenden Bewohnern. – Die noch vor wenigen Tagen von der Gewalt eines mit seltener Heftigkeit tobenden Typhoon (Wirbelsturmes) wild durcheinander gepeitschten Wassermassen boten jetzt das Urbild majestätischer Ruhe, und mit normaler Geschwindigkeit eilte unser Dampfer durch die von der höher steigenden Sonne glänzend beleuchtete, spiegelglatte Ebene dem nahen Hafen entgegen.

„Hongkong!“ ertönte da von mehreren Seiten gleichzeitig der freudige Ruf, und umschauend gewahrten wir uns bereits inmitten eines Felsenarchipels, dessen größte östliche Insel, Hongkong mit der englischen Colonie „Queentown“, einen herrlichen Anblick bot. Die immer intensiver wirkenden Strahlen der tropischen Sonne verliehen den hohen kahlen Felsenbergen hellen Glanz und ruhten brennend auf den blendend weißen Häusern der Colonie, die, neben den Wohnungen der Eingeborenen terrassenförmig an dem steil abfallenden Bergeshang hingestreut, sich bis dicht an den Strand des Meeres erstrecken. Durch einen schmalen Meeresarm vom asiatischen Continent getrennt, birgt die kleine Insel einen der bedeutendsten Handelsplätze des Orients, und der von der Natur herrlich angelegte Hafen, in den wir eben einfuhren, zählt zu den ersten der Welt.

Plötzlich verstummte das einförmige Getöse der Schraube, und bald darauf rauschte der Anker hinab in die Tiefe des Meeres, vom Gerassel der nachfolgenden Ketten begleitet. – Jetzt tönte das Geräusch einer Unzahl beschleunigter Ruderschläge zu uns herüber, und bald darauf war unser Schiff auch schon rings von Dschonken (chinesischen Booten) umlagert, deren Insassen eifrig bemüht waren, Passagiere für ihre Fahrzeuge zu werben. Die längere, durch Sturm und andauernde ungünstige Witterung etwas aufreibende Seereise machte uns einen kurzen Aufenthalt an Land doppelt wünschenswerth, und versehen mit

  1. Zur Beobachtung des Venusdurchganges am 9. December 1874.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 67. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_067.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)