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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

der Uebersetzung der verschiedenen Manifeste, die um diese Zeit in den Tagesblättern der Perle Frankens zu lesen waren. Er spricht sich allerdings nicht für die Ultramontanen aus, aber der Ton, den die Nationalen gegen die Priester führen, erinnert den Verfasser „an die rhetorischen Blumen des Père Duchêne, zur Zeit, wo Raoul Rigault die Priester als Geiseln erschießen ließ“. Am Abend der für den Ultramontanismus verlorenen Schlacht holt sich Tissot wie gewöhnlich Paroli – im Wirthshause. In einem solchen findet er „zwei Capläne, die ihre langen Pfeifen rauchen mitten in einer Gruppe von dickbäuchigen Specereihändlern und Bäckermeistern, die dem Generalstabe der katholischen Partei angehören. Die Leute redeten leise, und meine Anwesenheit schien sie zu geniren. Der älteste Caplan allein – wahrscheinlich war er taub – sagte, indem er mit seinem halbgefüllten Bierglase auf den Tisch stieß: Malefiz Preußen!“ Von Würzburg geht es nach Nürnberg, und hier ist es das Zellengefängniß, welches auf Tissot eine mächtige Anziehungskraft ausübt. Warum gerade diese besondere Bevorzugung? Ist es, weil es sehr schwer sein soll, die Strafanstalt anders als in erzwungener Weise zu besuchen, oder gilt die Neugierde dem in diesem Gefängnisse eingesperrten Dr. Sigl? Kurz und gut, um sein Begehren zu stillen, miethet Tissot einen zweispännigen Wagen, zieht sich einen neuen Rock an und hofft auf die Wirkungen seiner goldenen Uhr, um dem Dienstpersonale zu imponiren. Es gelingt ihm auch wirklich, den „deutschen Veuillot“ durch das Gitterloch seiner Zelle die verschiedenen Majestätsbeleidigungen absitzen zu sehen. Das Schicksal des Redacteurs des „Vaterland“ rührt tief die wehmüthige Seele des Verfassers; er ist in dieser Angelegenheit auch mit Andrassy nicht zufrieden und erinnert ihn, daß die Regierungen, in deren Lande der ungarische Graf nach 1849 Schutz suchte, nicht so rasch mit Auslieferungen bei der Hand waren.

Von Nürnberg verfügt sich Tissot nach Bayreuth, und hier muß selbstverständlich das Wagner’sche Theater Materie für einige Seiten Beschreibung und Wagneriana liefern. Der Name des „Tannhäuser“-Componisten hat in Frankreich jene Popularität, die denjenigen anhaftet, welche Heroen eines artigen Scandals gewesen und als solche das tout Paris, wenn auch nur achtundvierzig Stunden, beschäftigten. Der eclatante Sturz des „Tannhäuser“, der im Jahre 1861 in Gegenwart des Kaisers und der Kaiserin niedergezischt und niedergebrüllt wurde, der von den Edelleuten des Jockey-Club eingefädelte Krawall lebt heute noch im Andenken jedes Dilettanten fort, und Wagner’s Physiognomie taucht dämonenhaft inmitten der heraufbeschworenen Tumultscenen des Gezisches und Gejohles auf; so sind denn auch Anekdötchen über den Chef der Zukunftsmusik sehr gesucht. Tissot analysirt unter Anderen eine ungespielt gebliebene Komödie Wagner’s „Eine Capitulation“. Es ist ein Potpourri über die Vertheidigung von Paris, worin die verschiedensten Persönlichkeiten in barockster Weise besungen werden. Die Analyse dieser Komödie wurde vom „Figaro“ gebracht; sie verursachte hier solchen Aerger, daß Herr Pasdeloup, der Dirigent der volksthümlichen, sehr beliebten Sonntagsconcerte sich nicht mehr traut, den „Tannhäusermarsch“ auf sein Programm zu setzen, der sonst fast allwöchentlich einen Bestandtheil des harmonischen Küchenzettels bildete. Von Richard Wagner zu dessen königlichem Gönner giebt es keinen weiten Sprung.[1]

Die Museen und Sehenswürdigkeiten Münchens werden von Herrn Tissot nach Gebühr gewürdigt. Man mag sich wundern, daß bei all dem Deutschenhasse das künstlerische Gefühl unseres Autors nicht stumpf geworden ist und daß er auf deutschem Boden etwas Verdienstvolles bewundern und der Bewunderung empfehlen kann. Zwar kommt man auch hier nicht ohne einige witzig sein sollende Pointen weg, und nachdem der Verfasser z. B. Kaulbach’s Nachlaß, die „Sündfluth“, genau und eingehend beschrieben hat, zieht er gegen die politische Tendenz des großen deutschen Malers vom Leder.

„Kaulbach,“ schreibt Herr Tissot anläßlich des ‚deutschen Erzengels Michel‘, „hat mit seiner Malerei, wie Wagner mit seiner Musik, eine Culturaufgabe lösen wollen. So meinen heute die Deutschen in ihrem Kampfe gegen Frankreich eine civilisatorische Sendung zu erfüllen. Wenn ein Franzose jenseits der Vogesen ermordet wird, was übrigens bereits geschehen ist, hört man den Mörder gewiß zu seinen Richtern sagen: ‚Ich habe meine Pflicht als guter Bürger erfüllt – habe ich meinem Lande nicht geholfen, seine Culturaufgabe zu erfüllen?‘ Dahin (zum Raubmorde aus politischen Rücksichten) führt dieser schreckliche Haß, den man von Geburt an dem Kinde einimpft und den später die Schulbücher, die Zeitungen, die Dichtkunst, das Theater, die Schlachtgedenkfeste als patriotische Flamme schüren werden. Mit dieser Auffassung wäre der Patriotismus nur Kannibalismus.“

Ehe wir das vor uns liegende Buch schließen, folgen wir noch eine Weile dem Autor bis zu den Gestaden der Nordsee hinauf. Das Hamburger Wohlleben läßt ihn nicht kalt. Er singt ein Loblied auf die Küchen der Elbstadt, feiert die Tingeltangel in Sanct Pauli, und seine angeborene Prüderie leidet nicht zu stark unter den etwas leichtfertigen Schauspielen des Hamburger Berges. Er erzählt mit unverwüstlichem Ernste, daß der Besitzer einer Hamburger Kellerrestauration so dick geworden ist, daß er durch die eigene Thür nicht hinauskam, und daß seit zwei Jahren über die Demolirung dieser zur Gefängnißthür gewordenen Pforte berathen wird. Nicht weniger erfreut zeigt sich Herr Tissot über die Herzensergießungen eines Börsianers in Bremen, der die Zukunft des deutschen Reiches schwarz und düster malt. Dieser Jünger Merkur’s, der Herrn Tissot „durch seine gesunde Auffassung der Dinge und durch seine Kenntnisse in Staunen versetzte,“ versichert, daß „in Varzin Jener zu suchen ist, der die Unordnungen in der Herzegowina geschaffen hat. England“ – immer wenn man Herrn Tissot und seinem Jobber glauben soll – „handelte in der ägyptischen Frage auf Antrieb Preußens. Oesterreich ist in Gefahr; seit zehn Jahren wartet Preußen, daß die habsburgische Birne vom Stamme falle. In Wien wird die ganze deutsche Presse vom Reptilienfond besoldet. Die Dreikaiserallianz ist eitler Trug. Oesterreich wird bedroht, und für Rußland ist Sedan, was für Frankreich Sadowa gewesen ist.“

Lachet nicht! In vier Wochen wird die gesammte französische Presse den Herzensergüssen des Bremer Börsianers als maßgebendes Stimmungsbild Verbreitung und Autorität verschaffen.

Zum Schlusse unserer Abhandlung über den zweiten Theil des „Voyage au pays des Milliards“ erlauben wir uns, den Autor selbst vorzustellen, von dem seit einem Jahre so viel die Rede war. Victor Tissot ist ein geborener Schweizer, ungefähr zweiunddreißig Jahre alt. Kurz nach dem Kriege heirathete er ein Fräulein aus einer angesehenen Straßburger Familie. Für den, der Tissot vor dem Krieg gekannt hat, gewinnt es den Anschein, als hätte er mit seiner Frau auch den glühenden Deutschenhaß der Straßburger erheirathet. Wenigstens war nicht das geringste Merkmal von solchen Empfindungen wahrzunehmen, als Schreiber dieser Zeilen in Genf Tissot kennen lernte. Damals leitete Tissot in Lausanne die conservativ-liberale „Gazette de Lausanne“ und erzählte gern Manches aus seinen Studienjahren in Freiburg im Breisgau, Tübingen und Wien. Obwohl er in Lausanne eine angenehme und unabhängige Stellung hatte, zog ihn der Polarstern jedes Aufstrebenden, das leuchtende Paris, mächtig an. Er war der erste französisch schreibende Autor, der Deutschland nach dem Krieg bereiste und sofort entdeckte, was für’s französische Publicum paßte. Seine Vorgänger hatten den Stoff als sentimentale Heulmeier, wie z. B. Claretie, oder als Producenten centnerschwerer Leitartikel aufgefaßt. Tissot behandelte Alles anekdotisch; er schnüffelte überall wie ein echter Reporter, besah sich die Dinge von der kleinen Seite und bewegte sich überall mit jenem Aplomb, welcher der Menge imponirt. Als er merkte, daß seine Façon zu arbeiten in fast unverhoffter Weise Anklang fand, forcirte er natürlich die Note und trieb es immer bunter. Nach den sechs ersten Briefen war Tissot recht populär, und die Citate aus seinen Artikeln waren von nun an von obligaten Complimenten über den Scharfsinn, den Geist und die stilistischen Eigenschaften des Verfassers begleitet. So Manche, die Deutschland ebenso gut, vielleicht besser kennen als Herr Tissot, riefen beim Erscheinen des Buches: „Das hätte ich auch getroffen.“ Nein – versucht ja, getroffen nicht. Tissot hat sein Pariser

  1. Diesen Sprung, mittelst dessen sich Herr Tissot in das Gebiet persönlicher Betrachtungen über König Ludwig versetzt, machen wir lieber nicht mit, sondern bringen die betreffende Stelle unseres Artikels in Wegfall, einerseits um die Leser nicht mit den albernen Expectorationen des französischen Autors zu behelligen, andererseits aber, weil uns die jüngsten redactionellen Erfahrungen gelehrt, wie selbst harmlose Schilderungen hoher Persönlichkeiten an maßgebender Stelle mißverstanden werden können.
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 183. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_183.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)