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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

wurden, das ist schon oft dagewesen. Daß ein zerschlagener Degen als Skepter fungirt, das ist neu.

Maßen der alte Thiers nicht selber zu Pferde steigen konnte – gewiß zu seinem großen Leidwesen – so mußte er sich nach einem passenden Obergeneral umsehen, und seine Wahl fiel auf den aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückgekehrten Mac Mahon. Daß dieser trotz Wörth und Sedan noch ein solches Ansehen behalten hatte, zeugt immerhin von seiner soldatischen Tüchtigkeit. Vielleicht wollte die Quasi-Republik durch die Ernennung des sehr katholischen Marschalls der hochwürdigen Klerisei eine Bürgschaft geben. Uebrigens war ja auch die Auswahl nicht groß.

Der Marschall hatte ausreichende Streitkräfte unter seiner Hand, an 150,000 Mann. Die „aktive“ Armee, anfänglich drei, später fünf Korps stark, wurde von den Generalen Ladmirault, Cissey, Du Barrail, Douay und Clinchant kommandirt. Die „Reservearmee“ befehligte der General Vinoy. Nachdem die Organisation, Ausrüstung und Vertheilung der Truppen vollendet war, begannen die Blauen am grünen Donnerstag (6. April) ihre Angriffsbewegungen gegen die Rothen. In der Richtung auf Neuilly zunächst. Die Feldwachen der Rothen, welche sich wieder bis Courbevoie vorgewagt hatten, wurden von dort über die Seinebrücke und die Avenue hinab bis zur Porte Maillot zurückgetrieben. Zugleich überschüttete der Mont Valerien Neuilly und dessen Umgebung, sowie am folgenden Tage die Champs-Elysées und das Quartier Les Ternes mit Kugeln, welche eiserne Boten den Parisern den ganzen Ernst der Lage und den Beginn des zweiten Bombardements der Stadt verkündeten. Der Karfreitag sah einen achtstündigen mörderischen Kampf um den Besitz der Brücke von Neuilly. Die Rothen schlugen sich mit Todesverachtung, und erst am nächsten Tage (8. April) verzichteten sie darauf, die von den Blauen genommene wichtige Brücke wiederzunehmen. Nach schweren Verlusten konnten demzufolge die Regierungstruppen am rechten Seineufer Batterien errichten, welche im Verein mit denen des Mont Valerien die Porte Maillot in der Umwallung und über diese hinweg den Arc de Triomphe und die Champs-Elysées zu Zielpunkten nahmen. Den Ostersonntag und Ostermontag über ruhten die Waffen. Am 11. April sodann inaugurirte der Marschall seine Oberbefehlshaberschaft durch ein heftiges Artilleriefeuer, welches die blauen Batterien von Neuilly und Chatillon aus gegen die Porte Maillot und die Südforts richteten. Ein in der Nacht mit bedeutenden Streitkräften unternommener Versuch, die Südforts mittels Ueberrumpelung zu nehmen, schlug gänzlich fehl. Die Rothen waren wachsam und gut vorbereitet. Sie bereiteten den Ueberrumpelern einen so heißen Empfang, daß diese ihn zu heiß fanden und eiligst den Rückzug antraten. Viel besser gelang etliche Tage darauf den Blauen ein Schlag vor der Westfronte der Stadt: die Erstürmung des bei Asnières gelegenen, von den Rothen besetzten und befestigten, den Strom, sowie die Straße zwischen Courbevoie und Asnières beherrschenden Schlosses Bécon durch die Truppen des Generals Montaudon am 17. April. Dies war für die Rothen ein nicht zu mißachtendes Signal, sich definitiv auf das rechte Seineufer zurückzuziehen. Die Fortsetzung der Kämpfe in dieser Gegend, hartnäckige Feuergefechte ohn’ Ende mit sich bringend, fiel schwer auf die zwischen der Umwallung und dem Strome gelegenen Ortschaften Clichy, Levallois, Champerret, Villiers und Neuilly, deren Insassen sich und ihre Habseligkeiten so gut es ging nach Paris hineinflüchteten, während die zierlichen Dörfer oder Städtchen selbst unter den sich kreuzenden Geschossen in Trümmer sanken. Der Plan des Marschalls wollte, daß die Truppen auf der Südseite wenigstens ebenso weit vorgeschritten sein müßten wie auf der Westseite, bevor von beiden Seiten ein gleichzeitiger Angriff auf die Umwallungslinie geschehen könnte. Aber in den Südforts, namentlich in Issy und Vanves, behaupteten sich die Rothen mit wilder Zähigkeit bis in den Mai hinein gegen ihre blauen Belagerer. Denn hier sahen sich die Generale der letzteren genöthigt, zu förmlichen Belagerungen zu schreiten, mit Laufgräben und allem Zubehör vorzugehen. Der Kampf um diese Citadellen führte allerhand Krisen im Schoße der Kommune mit sich und gab auch den unmittelbaren Anstoß zum Sturze von Cluseret. Am 9. Mai fiel Issy, am 14. Mai Vanves endgiltig in die Hände der Blauen. Die rothe Fahne war selbst auf den Trümmerhaufen, wozu die Kugeln der Belagerer die beiden Burgen gemacht hatten, bis zur äußersten Möglichkeit aufrechtgehalten worden.

Nunmehr konnten die Truppen des Marschalls gegen die Umwallung der Stadt selber vorgehen, aber nicht etwa mit einem Sturmangriff, welcher vorerst ganz aussichtslos gewesen wäre. Spitzhacke, Spaten und Schaufel, die Berechnungen und Künste des Ingenieurs, die Wirksamkeit des Belagerungsgeschützes mußten vorerst in Anwendung gebracht werden und wurden es. Im Lieblingsparke der Pariser, im Bois de Boulogne, zwischen jenen kokett sich kreuzenden Fahr-, Reit- und Wandelwegen, auf welchen sonst der Luxus allen seinen Uebermuth und Frauenschönheit alle ihre Lockungen entfaltet hatten, wurde jetzt eine riesige Schanze aufgebaut und mit 70 Geschützen schwersten Kalibers bewaffnet. Diese Batterie spie sofort ihren Eisenhagel auf den ihr gegenüber liegenden Wall und die dahinter gelegenen anmuthigen Vorstädte Auteuil und Passy, und Dank diesem Eisenhagel vermochte der hier kommandirende General Douay seine Laufgräben der Umwallung rasch näher zu treiben.

Aber aller Eifer der Blauen, alle ihre Vorschritte waren doch bei weitem nicht rasch genug, um den unheilvollen Gedanken, womit die Kommune oder wenigstens die Fanatiker in derselben sich trugen, von vornherein die Möglichkeit einer Verwirklichung abzuschneiden. Daß solche Gedanken, eine beispiellose Katastrophe vorzubereiten, vorhanden waren, hat nachmals die kriegsgerichtliche Untersuchung klargestellt. Uebrigens hatten die Fanatiker und die Charlatane des rothen Schreckens ihrer Absichten auch gar kein Hehl. Im Gegentheil, sie machten förmlich damit Parade. Einer der rothen Hauptcharlatane – zum Fanatiker war er viel zu schlecht – Jules Vallès, Mitglied der Kommune, sagte jedem, der es hören wollte, mündlich und in seinem Gossenblatt „Cri du peuple“ schriftlich, daß die Rothen den Blauen Paris nur als einen Trümmerhaufen überlassen wollten und würden. „Die Banditen von Versailles mögen ein Fort nach dem andern nehmen. Sie mögen auch die Stadtumwallung niederwerfen. Aber keiner ihrer Soldaten wird trotzdem Paris betreten. Wenn Thiers etwas von Chemie versteht, so wird er uns verstehen. Die Armee von Versailles mag wissen, daß Paris vor nichts, aber auch vor gar nichts zurückschrecken wird und daß alle Maßregeln getroffen sind.“

Wie wohlbedacht diese Drohungen waren, hat der Schlußakt des rothen Quartals nur allzu roth, zu blut- und feuerroth bewiesen. Unser Charlatan von Prophet freilich scheint nicht daran geglaubt zu haben, daß andere seine finsteren Prophezeiungen in Erfüllung bringen würden. Nachstehende Scene, die ein durchaus verlässlicher Zeuge mitgetheilt hat, zeichnet den Menschen und mit ihm alle jene gewissen- und schamlosen Zigeuner, welche aus der Agitation ein Handwerk und aus der Revolution eine Versorgungsanstalt gemacht haben und machen.

Am 11. Mai erzählte im Kafé Madrid ein Pariser dem deutschen Publicisten G. Schneider Folgendes: „Ein Freund von mir, der Direktor des Journals ‚Eclipse,‘ war von einem gewissen Pilotell, der, – ein Karikaturenzeichner letzten Ranges und verkommenes Subjekt – vom Centralkomité zum Quasiminister der schönen Künste erhoben, diesen hohen Posten mit der Stelle eines Polizeikommissärs vertauscht hatte, ausgeplündert und arretirt worden. Ich wollte versuchen, durch Vallès die Freilassung des Verhafteten zu erlangen, und da man mir sagte, daß er bei dem Weinhändler Delille an der Place des Victoires zu speisen pflegte, ging ich dorthin. Bald trat Vallès ein. Er hatte sich den Bart verschneiden lassen und trug Sommerkleider mit einer rothen Rosette im Knopfloch. Den unvermeidlichen Schleppsäbel an der Seite, eingehüllt in einen polnischen Schnürenrock, Ungarstiefeln an den Füßen, eine Fischottermütze auf dem Kopfe, rief er mir zu: ‚Wollen Sie meine Stelle im Hôtel de Ville einnehmen?‘ – ‚Schönen Dank! Ich habe keine Lust füsilirt zu werden.‘

Er legte Mütze, Rock und selbst Weste ab. Seine schwarzen Haare tropften von Schweiß; seine Augen glühten in Fieberhitze; seine Brust keuchte. ‚Was für ein Handwerk!‘ rief er aus. ‚Und ich, der ich so faul bin! Diese Leute dort werden mich noch verrückt machen. Sitzung bei Tage, Sitzung bei Nacht. Und wozu? Das Lob Baboeuf’s zu singen! Sehen Sie, die Versailler entreißen uns Stunde für Stunde Terrain, Mauer, Hoffnung,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_234.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)