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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

schluchzend, halb gespenstisch flüsternd mit ihrer heiseren Stimme und wankte hinüber, wo die Träger, Athem schöpfend, für einen Augenblick ihre Last niedergesetzt hatten.

Die Verunglückte lag auf dem altmodischen Ruhebette aus des Doctors Arbeitszimmer – ihre seitwärts niederhängenden Kleider troffen von Nässe. Weiche Bettkissen unterstützten Kopf und Rücken; sie hätte mit ihren sanft geschlossenen Lidern und den zwanglos im Schooße ruhenden Händen ausgesehen wie eine friedlich Schlummernde, wären nicht das Blutgerinnsel an der linken Wange nieder und die Binde über der Stirn gewesen, die von einer Kopfwunde zeugten.

„Was ist’s mit Käthe, Leo? Was in aller Welt hat sie an der Unglücksstätte zu suchen gehabt?“ fragte Flora an das Ruhebett herantretend – Ton und Blick zeigten mehr Aerger über den vermeintlichen Vorwitz der Stiefschwester, als eigentlichen Schrecken.

Der Doctor war vorhin bei ihrer beschwichtigenden Versicherung wie in jäh aufloderndem Zorne emporgefahren; jetzt schien es, als höre er gar nicht, daß sie spreche – so fest lagen seine Lippen aufeinander, und so leer war der Blick, der neben ihr hinstreifte und dann auf Henriette niedersank.

Die arme Kranke stand, nach Athem ringend, vor ihm und ihre thränenumflorten Augen sahen in Todesangst zu ihm auf. „Nur ein einziges Wort, Leo – lebt sie?“ stammelte sie mit bittend gehobenen Händen.

„Ja, die Lufterschütterung und der Blutverlust haben sie betäubt, gefahrbringend sind augenblicklich nur die nassen Kleider; die Stirnwunde ist ungefährlich, Gott sei Dank!“ antwortete er wie aus tiefster Brust in vibrirenden Tönen, und liebreich wie ein Bruder legte er den linken Arm stützend um ihre schwache Gestalt, die sich kaum auf den Füßen zu erhalten vermochte. „Vorwärts!“ befahl er den ruhenden Trägern mit hörbarer innerer Angst und Ungeduld.

Der begleitende Menschenschwarm verlief sich enttäuscht; es war ja keine Gefahr vorhanden; die Meisten kehrten nach der Brandstätte zurück. Das Ruhebett wurde über den Kiesplatz getragen, an der Präsidentin vorüber, die völlig geistesabwesend auf die Ohnmächtige stierte und nichts mehr zu begreifen, zu fassen schien. Die entsetzte Mädchenschaar drängte sich wie gescheucht an einander und blickte rathlos zu dem jungen Arzt empor, der, ohne sie zu beachten, neben dem Ruhebette schritt. Noch hielt er mit dem linken Arme Henriette umschlungen; die Rechte aber hatte er auf Käthe’s Stirn gelegt, um jeder schmerzenden Erschütterung vorzubeugen. Der sonst so scheu sein Inneres verbergende Mann, den man in der letzten Zeit nur noch mit tiefverfinsterten Zügen und gezwungenem Wesen gekannt hatte, sah unverwandt behütend, mit unverhohlener Zärtlichkeit auf das erblaßte Mädchengesicht nieder, als existire nichts Anderes mehr für ihn, als habe er unter Todesqualen sein Liebstes und Heiligstes auf dieses Ruhebett gerettet.

Flora ging der schweigenden Gruppe nach, isolirt, wie wenn nicht das geringste Band sie mit den drei Menschen verkette, die das Unglück plötzlich vor Aller Augen in so innige Beziehung brachte. Dort, wo die Träger gerastet hatten, standen noch tiefe Wasserlachen; sie war mit ihren zierlichen, weißen Stiefeln in das trübe Naß getreten, und die lange Tarlatanschleppe schleifte durchfeuchtet und beschmutzt über den Kies. Mit einem raschen Griff nahm die schöne Braut den weißen Margueritenkranz aus dem Haar; er war zur bitteren Ironie geworden inmitten der entsetzlichen Ereignisse; sie zerdrückte und zerriß ihn mechanisch mit den Fingern, und wo sie gegangen war, lagen die kleinen schneeigen Sterne verstreut.

Aber auch sie schritt an der Großmama und den Freundinnen vorüber, ohne sie anzusehen. Ihr funkelnder Blick maß unausgesetzt die imposante Gestalt des Bräutigams – man sah, sie erwartete von Secunde zu Secunde, daß er sich nach ihr umwende, und so folgte sie ihm Schritt für Schritt über den weiten Platz, über die Schwelle des Hauses. Die Präsidentin rief nach ihr; ein abermaliges, erderschütterndes Gerassel, dem ein emporbrausendes Toben von Menschenstimmen folgte, dröhnte von der Ruine herüber – sie sah nicht zurück; mochte auch hinter ihr die Welt zusammenbrechen – sie ging in unerbittlicher Entschlossenheit „ihren Rechten“ nach.




25.


Auf diesen grauenvollen Tag folgte eine dumpfschweigende Nacht voll todesbanger, athemloser Spannung. Niemand ging zu Bette; alle Gasflammen im Hause brannten; die Dienerschaft schlich ruhelos auf den Zehen umher oder hockte flüsternd in den Ecken zusammen, und nur wenn drüben vom Thurme her die Schritte eines Feuerwächters näher klangen oder eine der nach außen führenden Thüren leise geöffnet wurde, fuhren Alle wie elektrisch empor und rannten hinaus in die Corridore, denn der Herr des Hauses sollte und mußte noch kommen, aber die Nacht verging und das Frühroth brach durch die Fenster – und er kam nie, nie wieder.

Es war ein rosiger, den klarsten Tag verkündender Strahl, der über die Villa Baumgarten hinglitt und die zersprungenen Spiegelscheiben glitzern und flimmern machte. Er lief durch den Festsaal und ließ den Purpursammet des herabgestürzten Brautbaldachins aufleuchten; er küßte das welkende Laub der Festons und das zerknickte Geäst der umgeworfenen Treibhausbäume – welch ein Chaos! Ein einziger Stoß hatte die kostbare, aber leicht gefügte „Feerie aus tausend und einer Nacht“ in ein schauerliches Gemengsel von zahllosen Scherben und Trümmerresten zusammengeschüttelt. Und alle die zierlichen, die bräutliche Freundin verherrlichenden Verse waren ungesprochen geblieben, und da, wo die goldbeflitterten Genien in Rosengewölk hatten herabschweben sollen, spielte der scharf hereinziehende Morgenwind gespenstig mit rosa und weißen Kreppfetzen.

Vielleicht heute zum ersten Male durfte das Frühlicht in die vornehmen Räume schimmern; kein Laden war vorgelegt, kein Rouleau niedergelassen worden; selbst das prächtige Schlafzimmer auf der nordöstlichen Ecke des Erdgeschosses, mit seinen korinthrothen Seidendraperien und seinem kostbar geschnitzten, von Spitzen überdeckten Bette auf hoher Estrade, war ihm preisgegeben, und es durfte sich in den Brillanten spiegeln, die noch in den Lockenpuffen der Präsidentin verstreut lagen. Die Hand der Kammerjungfer hatte die alte Dame nicht berühren dürfen; noch schleppte ihr das gelbe Stoffkleid schwer nach, wie sie immer wieder durch die lange Zimmerreihe wankte, in welcher die umgeworfenen Möbel, die von den Simsen gestürzten Statuen umherlagen.

Die Schleierwolke um Hals und Kinn der alten Dame hatte sich gelöst, und der sonst so sorgfältig verhüllte, fleischlose Unterkiefer hob sich scharf, in hippokratischer Linie von dem vertrockneten Halse. Ja, sie war hochbetagt und für den ausgedörrten Körper stand die Lebenssonne tief, tief im Niedergehen – und dennoch wälzte diese wankende Greisin in fieberhafter Angst den einen Gedanken unablässig durch den Kopf: „Wer wird Moritz beerben?“ Sie selbst hatte nicht den leisesten Anspruch auf die Hinterlassenschaft des so jäh Hingerafften – nicht einmal auf das Bett, in welchem sie schlief, nicht auf das Geschirr, aus welchem sie aß. Der Commerzienrath war früh verwaist; so viel sie wußte, existirten keine Verwandten seines Namens mehr, aber hatte er nicht öfter Unterstützung an eine arme Schwester seiner verstorbenen Mutter an den Rhein geschickt? Sollte sie die Erbin sein? Der Gedanke war zum Rasendwerden. Die Frau eines obscuren Schreibers, eine bedürftige Weißnäherin, nahm Besitz von den kolossalen Reichthümern, und die Frau Präsidentin Urach, die sich schon lange gar nicht mehr vorstellen konnte, wie man ohne seidengepolsterte Equipage von einem Orte zum anderen kommen, wie man ohne Koch und servirende Lakaien anständig essen und in einem Bette ohne Brocatbaldachin schlafen könne, sie mußte ihre alten, auf den Dachboden gestellten Möbel wieder ausklopfen und in eine enge Miethwohnung schaffen lassen, wo es keinen Marstall voll dienstbereiter Pferde, keine Livréebedienung und keine fürstlich splendide Küche mehr gab – denn sie und ihre beiden Enkelinnen waren ja nicht blutsverwandt mit dem Millionär, der ohne Testament aus der Welt gegangen.

Die aus der Umgegend eingeladenen Herren waren bis nach Mitternacht um die alte Dame versammelt geblieben, und wenn man auch diesen Punkt nicht berührt hatte, so war doch schon in die hochgehenden Wogen der schreckensvollen Bestürzung da und dort ein scheues Wort gefallen über die entsetzliche Verwirrung, die der Katastrophe bezüglich der Vermögensverhältnisse

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_345.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)