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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 22.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Im Hause des Commerzienrathes.


Von E. Marlitt.


(Fortsetzung.)


Flora hatte Recht; sie nannte allerdings die Dinge beim Namen – sie sprach das aus, was der Mann da vor ihr in seinem Innern nicht leugnete, was ihn seit gestern in eine namenlose Seelenpein versetzt hatte, aber daß der fein geschnittene, zarte Frauenmund sich vor den nacktesten Ausdrücken nicht scheute, um den Scharfsinn, „der sich nicht düpiren lasse“, an den Tag zu legen – das war wohl geeignet, einen Sturm von Unwillen in einer feinfühlenden Menschenseele hervorzurufen.

„Ach, wie ich sehe, habe ich heute das Unglück, Dir in Allem, was ich sage, zu mißfallen,“ hob sie nach einem secundenlangen Verstummen halb sarkastisch, halb schmollend wieder an und ging ihm um einige Schritte nach – er hatte sich mit unverhohlener Entrüstung abgewendet und war schweigend in die Fensterecke getreten. „Möglich, daß mein gerechtes Urtheil ein wenig zu drastisch ausgesprochen war; vielleicht hätte ich auch, dankbar für manche kleine Annehmlichkeit, die mir Römer hier und da verschafft hat, weniger wahr und aufrichtig sein sollen“ – sie zog die Schultern und die Brauen empor – „aber ich bin nun einmal eine geschworene Feindin aller schwächlichen Bemäntelung und habe dabei auch alle Ursache, empört zu sein. Meine Schwester Henriette, mit deren Erbtheil Römer speculirt hat, wird mit dem Zusammensturze bettelarm, und Käthe? – Sei versichert, daß ihr von ihrem ganzen immensen Vermögen nicht ein Papierschnitzel bleibt!“

„Desto besser!“ kam es wie ein Hauch von den Männerlippen, die so jünglingshaft roth und keusch unter dem vollen Barte schimmerten und in diesem Momente sanft zu lächeln schienen.

So schwach die zwei Worte auch geklungen, Flora’s Ohr hatte sie doch aufgefangen. „Desto besser?“ fragte sie erstaunt und schlug, halb und halb lachend, die Hände zusammen. „Sehr sympathisch ist mir unsere Jüngste allerdings auch nicht, aber was hat sie denn verbrochen, daß Du ihr Unglück in so befremdlicher Weise aufnimmst?“

Er biß sich wie in innerem Kampfe heftig auf die Unterlippe und preßte die Stirn an das Fensterkreuz; sie sah nachsinnend neben ihm weg, hinaus in den Garten, wo eben der goldene Morgenstrahl das weiße Haupt der steinernen Brunnennymphe erreichte.

„So schlimm, wie Henriette, ergeht es Käthe allerdings nicht – die Schloßmühle bleibt ihr, und die mag schon ein hübsches Stück Geldes werth sein,“ setzte sie nach einer Pause hinzu. „Dorthin kann sie sich retten, wenn hier Alles zusammenbricht, und auch für unsere arme Brustkranke wüßte ich kein besseres Asyl; beide Schwestern lieben sich ja und würden sich gewiß vertragen. Es wird uns auch kein anderes Arrangement übrig bleiben; die Großmama mit ihrem schmalen Einkommen kann unmöglich für Henriette sorgen, und Dir werde ich selbstverständlich nie zumuthen, die kranke Schwester in unsere junge Häuslichkeit mitzunehmen.“ Sie schlang plötzlich ihren Arm in den seinigen und sah verführerisch zärtlich zu ihm auf. „Ach Leo, wie will ich Gott danken, wenn wir morgen im Wagen sitzen werden, all’ das Schreckliche, was nun hier erfolgen muß, im Rücken –“

Mit einer leidenschaftlichen Geberde, mit einem Ingrimm, wie sie ihn noch nie in diesem stillen, ernsten Männerantlitze gesehen, riß er sich von ihr los. „Möchtest Du wirklich Alle im Stiche lassen, die Armen, die in den nächsten Tagen rath- und hülflos inmitten der schrecklichen Schicksalsschläge dastehen werden?“ rief er wie außer sich. „Gehe, wohin Du willst – ich bleibe.“

„Leo!“ schrie sie auf – dann stand sie momentan sprachlos und rang mit einer unbeschreiblichen Erbitterung. Sie legte die geballte Hand auf das Herz, als habe sie einen Dolchstoß erhalten. „Du hast sicher die Tragweite Deiner allzu raschen Worte selbst nicht ermessen,“ sagte sie endlich klanglos und gepreßt; „ich will sie deshalb nur insoweit gehört haben, als sie eine Bemerkung meinerseits nöthig machen: Wenn wir nicht morgen, bevor der Ausbruch erfolgt, unsere Reise antreten – und Niemand wird es uns verargen, daß wir das nun einmal Vorbereitete in aller Stille ausführen –, dann muß unsere Verbindung überhaupt hinausgeschoben werden.“

Er schwieg und verharrte, wie zu Stein geworden, in seiner abgewendeten Stellung, und diese wortlose Unbeweglichkeit reizte sie sichtlich; ihr ganzes leidenschaftliches Naturell funkelte in den großen, grauen Augen.

„Ich habe Dir vorhin erklärt, daß ich zeitlebens gutwillig Deiner Praxis, der Liebe zu Deinem Berufe nachstehen will,“ setzte sie dringender hinzu. „Nie aber werde ich mit meinen Interessen anderen Frauen weichen – das merke Dir, Leo! Ich kann nun und nimmer einsehen, weshalb ich der Großmama und meiner Schwester wegen den furchtbaren Zusammensturz hier mit durchkämpfen soll, da mir doch das Recht zusteht, mich in die ruhige, schützende Häuslichkeit zu flüchten, die Du mir zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 359. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_359.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)