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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


gar, wie in den Bauernkriegen, noch unreif in einem Meere von Blut erstickt war, gelangte zu größerer Herrschaft in der Schweiz, erkämpfte in den Niederlanden die Unabhängigkeit von dem spanischen Despotismus und rief, das Stuart’sche Königthum vernichtend, in England das mächtige Commonwealth des eisernen Lord-Protectors in’s Leben. Wohl hatte er lange vergebens versucht, jenseits des Canals eine heimische Stätte zu finden. Ein ganzes Jahrhundert lang hatten Verfolgung und Bedrückung die aus dem Volke zur Herrschaft emporstrebenden und opferfreudigen Schaaren getroffen und Tausende zur Auswanderung gezwungen.

Unter den Vertriebenen, welche zur Zeit Jakob des Ersten sich zunächst nach Holland wandten und von da über die große Wasserwüste nach dem neuen Welttheile zogen, befanden sich auch einige Hundert puritanische Familien, welche in den Wäldern Amerikas die in Europa vergeblich gesuchte Freiheit zu finden hofften. Es waren die sogenannten Pilgerväter. Die in dem ersten Schiffe, der „Mayflower“, beförderten 101 Personen betraten den ungastlichen Continent am 22. December 1620 bei Plymouth Rock. Ohne es zu wollen oder zu ahnen, trugen sie die leitenden Gedanken der Reformation über’s Meer und wurden die Gründer eines mächtigen freien Staates, weil ihr geistiges, wirthschaftliches und öffentliches Leben stark und fest im Gefühl ihrer persönlichen Verantwortlichkeit, in gewissenhafter Arbeit und in mannhaftem Rechtsbewußtsein wurzelte.

Wenn England auch im Laufe der Jahre Hunderttausende seiner Söhne nach Amerika sandte, wenn auch die Unterdrückten aller europäischen Völker, Deutsche und Franzosen, Holländer und Schweden, in den Wildnissen des westlichen Continents Zuflucht, Erwerb und Gedeihen fanden, so wirkte doch ausschließlich bestimmend auf den Geist der aus den Wäldern und Einöden herauswachsenden neuen Gemeinwesen das kleine Neu-England, welches eben stärker, in sich gefesteter und bewußter war, als die ohne innere Verwandtschaft, äußere Zucht und geistigen Zusammenhang sich geltend machenden Lebensäußerungen der übrigen Nationalitäten.

Bei der Gründung des amerikanischen Staatswesens kommen höchstens nur noch die im Süden des Landes angesiedelten englischen Cavaliere und Pflanzer in Betracht, deren Bildung Bacon, Shakespeare und Milton beeinflußt hatten, deren politischer Gesichtskreis, wie bei den Puritanern, vom Common law und Selfgovernement beherrscht wurde, deren Interessen aber sich im Laufe der Jahre mit den Demokraten Neu-Englands in allen wesentlichen Fragen begegneten. Weder römischer Absolutismus, noch englischer Feudalismus, noch continentale Monarchie waren stark genug, den neuen Welttheil ihren Geboten zu unterwerfen. Ihn gewann vielmehr die junge thatkräftige Demokratie von Neu-England und das mit ihr verbündete, von ihr geistig beherrschte bürgerliche Element der übrigen Colonien, nicht in vereinzelten Anläufen oder heftigen Vorstößen, sondern im planmäßigen, langsamen Vordringen und stetigen Wachstum.

Diese unscheinbare und gering geachtete Macht, welche dem Lande ihren Charakter unzerstörbar aufgedrückt hat, ist heute noch der Kopf und das Rückgrat der amerikanischen Republik. Nur durch das von Neu-England selbst in die fernsten Theile des Landes getragene Princip der freien Selbstbestimmung sind die amerikanischen Colonien zu unabhängigen Staaten geworden. Es giebt kein Volk der Erde, welches einen stolzeren Stammbaum aufzuweisen hätte, als das amerikanische, weil keines vom ersten Tage seiner Geschichte an so ausschließlich wie dieses seine Stellung und Achtung in der Welt der fleißigen Arbeit der Hände und der bewußten Thätigkeit des Kopfes verdankt, welche beide im Dienste einer großen Idee stehen.

An einem Tage wie dem heutigen ist eine solche Betrachtung und Zusammenfassung der geschichtlichen Ergebnisse nicht allein am Platze, sondern zur richtigeren Erkenntniß des Gewonnenen sogar unerläßlich geboten. Wie der denkende Mensch im Rückblicke auf sein vergangenes Leben sittliche Erhebung gewinnt, so wirkt auch die historische Erinnerung und Vertiefung läuternd auf die Erkenntniß und den Fortschritt ganzer Völker. Deshalb können auch wir Deutschen die hundertjährige Jubelfeier des 4. Juli nicht passender begehen, als wenn wir uns die Bedeutung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung für die Vereinigten Staaten und für die Menschheit überhaupt im Lichte ihrer Zeit klar zu machen suchen.

Wie der mündig werdende Sohn sich vom väterlichen Hause loslöst und selbstständig macht, so liegt es auch im Wesen jedes Tochterstaates, daß er, zur Erkenntniß der ihm innewohnenden Kraft gelangt, vom Mutterlande abfällt und in die Reihe der unabhängigen Staaten zu treten sucht. Von allen amerikanischen Colonien haben die jetzigen Vereinigten Staaten diesen durch die Natur des gegenseitigen Verhältnisses bedingten Schritt am ersten gewagt. Der Eigennutz und die Gewinnsucht des Mutterlandes einerseits, die persönliche und wirthschaftliche Unabhängigkeit der Colonisten andererseits stießen zu schroff, zu gewaltsam aufeinander, als daß der natürliche Proceß durch sie nicht noch bedeutend beschleunigt worden wäre.

Ueberall stand der nackte, unverhüllte Vortheil Englands im Vordergrunde seiner Beziehungen zu den Colonien, welche in seinen Augen nur Pflichten oder höchstens die ihnen geschenkten Rechte hatten. England beanspruchte für sich das Monopol der Ausfuhr der amerikanischen Erzeugnisse und der Einfuhr der europäischen Bedürfnisse, verbot deshalb auch den Colonien jeden selbstständigen Handel mit dem Auslande und führte die Schifffahrtsacte in ihrer ganzen Härte und Schroffheit gegen sie durch. Diese krämerartige Kurzsichtigkeit hatte aber für die Amerikaner die gute Folge, daß sie ihren ganzen Witz und Verstand zur Umgehung der ihnen auferlegten Gesetze anspornte, also indirect die unverhältnißmäßig schnelle Hebung des amerikanischen Handels und wirthschaftlichen Gedeihens bewirkte. Uebrigens hatten die Colonisten bis zum siebenjährigen Kriege nicht über unmittelbare gehässige Eingriffe in ihre Rechte zu klagen, sodaß bis zum Ende desselben ein ganz leidliches Verhältniß zwischen Mutterland und Tochterstaat bestand. Erst die glückliche Beendigung dieses Krieges weckte in den einzelnen Colonien das Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit und das Gefühl ihrer Stärke, andererseits aber war England in Folge der durch den Krieg fast auf das Doppelte gewachsenen ungeheuren Staatsschuld gezwungen, die Colonien zur directen Besteuerung und zu den Kosten für ihren Schutz heranzuziehen. Die Summe war an sich nicht bedeutend und würde bei dem Wohlstande sowie der Loyalität der Colonisten sicher gezahlt worden sein, wenn ihre Bewilligung dazu erbeten worden wäre. Das Recht der Forderung und die Pflicht der Zahlung erkannten die Amerikaner dagegen nicht an; nur freiwillig wollten sie beisteuern. Ueber diese Frage entbrannte ein Vorpostengefecht welches volle zehn Jahre währte und in der Unabhängigkeitserklärung seinen Abschluß fand.

Die amerikanische Revolution war ein Kampf um’s Recht. Die Colonisten standen auf dem Boden der Geschichte und verlangten von ihm aus ihre Gleichberechtigung mit den Bürgern Englands. Sie traten für ihre angeblich und wirklich verbrieften Rechte und Freiheiten ein und wollten sich, wie sie sagten, das uralte Erbrecht der Briten wahren, ihre inneren Angelegenheiten nach eigenem Ermessen zu ordnen. Wie der Engländer in echt mittelalterlichem Geiste die Freiheit nur für sich und seine Mitbürger innerhalb der Grenzen des nationalen Staates, nicht aber eine gleiche für alle Menschen wollte, so verstanden auch die Amerikaner unter Freiheit ihre Gleichberechtigung mit den englischen Bürgern, und es war durchaus nicht das in ihnen lebendige Bewußtsein der Menschenrechte, welches sie zum Aufstande drängte. Die Rechtsfrage selbst war freilich lange nicht so klar, wie von jeder der streitenden Parteien behauptet wurde, allein wenn sie es auch gewesen wäre, so gab es gar keine andere Instanz als das Schwert, welches sie endgültig entscheiden konnte. Abgesehen von der Form und dem Buchstaben, standen sich in Amerika zwei miteinander unversöhnbare Gegensätze gegenüber: die Standesinteressen der herrschenden Gewalt gegen die Unabhängigkeitbestrebungen der wirthschaftlich erstarkten Colonien, eine herrschsüchtige, jenseits des Oceans durchaus unberechtigte Aristokratie und eine lebensvolle, vollauf berechtigte Demokratie. Wie jeder große, ernste Kampf war die amerikanische Begegnung ruhig, gemessen und geräuschlos. Nie wurde die Stimme des klar und kalt berechnenden Verstandes von dem Geschrei der Parteiwuth übertönt. Es fehlt dieser großen und tiefen Bewegung jeder theatralische Aufputz, jeder dramatische Effect. Keine äußeren Zeichen, keine entfesselten Volksleidenschaften, kein wogendes Meer von halb rasenden Menschen, keine wilde See von Mord und Blut drängen sich in den Gang der Ereignisse, sondern der ganze

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 446. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_446.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)