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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


„Möglich, aber ich werde mein Lebenlang an diese Führung denken. Stelle Dir vor, Leo, ich hatte auf einmal den Waldpfad verloren, den ich doch schon öfter gegangen war, und den ich ganz genau zu kennen meinte. Bei jedem Versuche, ihn wieder aufzufinden, gerieth ich nur immer tiefer in den Wald und fand mich schließlich in ganz unbekannten Umgebungen. Ich wußte nicht einmal mehr die Richtung, in welcher der Buchenholm oder die See lagen, denn es regte sich kein Windhauch, und auch nicht das leiseste Brausen der Wellen drang zu mir herüber. Ganz rathlos stand ich da und war eben im Begriff, umzukehren, als Etwas mit einem Ungestüm, als ob eine ganze Treibjagd daherbrause, durch die Gebüsche brach. Urplötzlich stand eine Gestalt vor mir, die ich wirklich für nichts anderes halten konnte, als für den Waldgeist in höchsteigener Person. Er schien direct aus dem Sumpfe zu kommen, denn er war bis über die Kniee hinauf voll Morast. Ein erschossenes Reh hatte er über die Schulter geworfen, ohne sich darum zu kümmern, daß das herabrieselnde Blut des Thieres seinen ganzen Jagdrock befleckte. Die ungeheure gelbe Löwenmähne, die er statt der Haare trägt, war von den Zweigen arg mitgenommen und fiel ihm über das Gesicht herab. So stand er da, die Flinte in der Hand, einen knurrenden, zähnefletschenden Jagdhund neben sich – ich frage Dich, ob es möglich war, dieses Waldungethüm für einen Menschen und Jäger anzusehen?“

„Du hast Dich wohl außerordentlich gefürchtet?“ spottete Leo.

Wanda hob mit einer sehr entschiedenen Bewegung den Kopf. „Gefürchtet? Ich? Du solltest doch wissen, daß ich nicht furchtsam bin! Eine Andere wäre wahrscheinlich davongelaufen, ich aber hielt Stand und fragte nach dem Wege zum Buchenholm. Aber obgleich ich die Frage wiederholte, wurde mir keine Antwort; statt dessen stand das Gespenst wie an den Boden festgewachsen und starrte mich mit seinen großen wilden Augen an, ohne einen Laut von sich zu geben. Jetzt wurde mir die Sache doch etwas unheimlich, und ich wandte mich zum Gehen; da war es auf einmal mit zwei Schritten an meiner Seite, wies nach rechts hinüber und gab die unzweifelhafte Absicht kund, mich zu führen.“

„Aber doch nicht blos pantomimisch?“ warf Leo ein. „Waldemar wird doch mit Dir gesprochen haben.“

„O ja, er sprach; das heißt: er beehrte mich im Ganzen mit sechs oder sieben Worten – mehr waren es sicher nicht. In der ersten Minute unseres Zusammenseins vernahm ich so etwas, wie: ‚Wir müssen rechts hinüber!‘ und in der letzten: ‚Da ist der Buchenholm.‘ Während der halben Stunde, die dazwischen lag, herrschte ein imponirendes Schweigen, das ich nicht zu brechen wagte. Und was war das für ein Weg, denn wir einschlugen! Erst gingen wir mitten in das Dickicht hinein, mein liebenswürdiger Führer voran, wie ein Bär alles Gesträuch niedertretend und durchbrechend. Ich glaube, er hat den halben Wald ruinirt, um mir einigermaßen den Weg zu bahnen. Dann kamen wir durch eine Lichtung, darauf an einen Sumpf; ich dachte, wir würden geradeswegs hineinlaufen, aber wunderbarer Weise blieben wir am Rande. Und während der ganzen Zeit fiel auch nicht ein einziges Wort zwischen uns, aber der seltsame Begleiter wich nicht von meiner Seite, und so oft ich aufblickte, begegnete ich seinen Augen, die mir mit jeder Minute unheimlicher wurden. Ich neigte mich jetzt entschieden der Ansicht zu, er sei direct aus irgend einem Hünengrabe emporgestiegen, um sich das erste beste Menschenkind als Opfer auszusuchen und es zu einem der alten Heidenaltäre hinzuschleppen, wo es sein Leben lassen müsse. Da, gerade als ich im Begriffe war, mich auf mein nahes Ende vorzubereiten, sah ich auf einmal die blaue See durch die Bäume schimmern und erkannte die Umgebungen des Buchenholms. Mein Cavalier aus der Urzeit blieb stehen, starrte mich nochmals an, als wolle er mich gleich auf der Stelle verschlingen, und schien es kaum zu hören, daß ich ihm dankte. In der nächsten Minute war ich am Strande, wo ich bereits Dein Boot erblickte. – Denke Dir mein Erstaunen, als ich heute eintrete und meinen Waldgeist, mein Hünengespenst, das ich längst in Gott weiß welche Höhlen der Erde versunken glaubte, im Empfangszimmer der Tante erblicke, und das besagte Gespenst mir schließlich als Vetter Waldemar vorgestellt wird! Es ist wahr, er gab sich heute durchaus im Salonstyl; er führte mich sogar zu Tische, aber mein Himmel, wie stellte er sich dabei an! Ich glaube, es war das erste Mal in seinem Leben, daß er einer Dame den Arm bot. Hast Du gesehen, wie er sich verbeugte, wie er sich bei Tische benahm? Nimm es mir nicht übel, Leo, aber Dein neuer Herr Bruder gehört ganz entschieden in die Wildniß, und zwar in die allerentlegenste. Da hat er doch wenigstens noch etwas Furchtbares an sich, wenn er aber unter civilisirten Menschen auftaucht, giebt er höchstens zu Lachkrämpfen Anlaß. Und das soll der künftige Herr von Wilicza sein!“

Leo theilte im Grunde ganz diese Meinung, dennoch sah er sich veranlaßt, die Partei seines Bruders zu nehmen. Er fühlte, wie unendlich er selbst diesem im Erscheinung und Haltung überlegen war, und das machte es ihm leicht, Großmuth zu üben.

„Es ist aber nicht Waldemar’s Schuld, daß seine Erziehung so ganz und gar vernachlässigt ist,“ sagte er. „Die Mama meint, sein Vormund habe ihn systematisch verwildern lassen.“

„Kurz und gut, er ist ein Ungethüm,“ entschied die junge Dame, „und ich erkläre hiermit feierlich, daß, wenn man mir noch einmal einen solchen Cavalier zumuthet, ich mir ein freiwilliges Fasten auferlege und nicht bei Tische erscheine.“

Während des Gespräches war Wanda’s Taschentuch, mit denn sie sich Kühlung zugefächelt hatte, herabgeglitten; es lag seitwärts unter den Epheuranken, die den Balcon umgaben. Leo bemerkte es und bückte sich ritterlich darnach; er mußte sich aber dabei fast auf die Knie niederlassen. In dieser Stellung hob er das Tuch auf und überreichte es seiner Cousine, und diese brach, statt ihm zu danken, wieder in ein lautes Lachen aus.

Der junge Fürst sprang heftig auf. „Du lachst?“

„O, nicht über Dich, Leo! Ich dachte mir nur soeben, wie unendlich komisch Dein Bruder sich in einer solchen Situation ausnehmen würde.“

„Waldemar? Ja freilich! Aber dieses Vergnügen wirst Du schwerlich haben. Der beugt sicher niemals das Knie vor einer Dame, am wenigsten vor Dir.“

„Am wenigsten vor mir?“ wiederholte Wanda beleidigt. „Ah so, Du meinst, ich bin noch ein solches Kind, daß es gar nicht der Mühe lohnt, vor mir niederzuknieen? Ich hätte große Lust, Dich vom Gegentheil zu überzeugen.“

„Wodurch?“ fragte Leo lachend. „Durch Waldemar’s Kniefall vielleicht?“

Die junge Dame warf trotzig die Lippen auf. „Und wenn ich mir nun vornähme, ihn dahin zu bringen?“

„Nun, so versuche doch Deine Macht an meinem Bruder!“ entgegnete er empfindlich. „Vielleicht lernst Du dann die Möglichkeiten richtiger schätzen.“

Wanda sprang auf mit dem ganzer Eifer eines Kindes, dem ein neues Spielzeug in Aussicht gestellt wird.

„Es sei! Was gilt die Wette?“

„Aber es muß ein ernstgemeinter Fußfall sein, Wanda! Keine bloße Artigkeit, wie der meinige vorhin.“

„Natürlich!“ bestätigte die junge Gräfin. „Du lachst? Du hältst das wohl unter allen Umständen für unmöglich? Nun wir werden ja sehen, wer von uns Beiden gewinnt. Du sollst Waldemar vor mir auf den Knieen sehen, ehe wir abreisen. Nur eins bitte ich mir aus: Du darfst ihm keinen Wink geben. Ich glaube, seine ganze Bärennatur käme zum Vorschein, erführe er, daß wir uns unterfingen, allerhöchstihn zum Gegenstand einer Wette zu machen.“

„Ich schweige,“ versicherte Leo, der, von ihrem Muthwillen fortgerissen, jetzt auf den Scherz einging. „Einem Ausbruch seiner Berserkerwuth aber werden wir nicht entgehen, wenn Du ihn schließlich auslachst und ihm die Wahrheit klar wird. Oder beabsichtigst Du vielleicht ihm ein ‚Ja‘ zu geben?“

Die beiden Kinder – denn das waren sie ja im Grunde noch mit ihren sechszehn und siebzehn Jahren – lachten und scherzten über ihren Einfall, wie eben übermüthige Kinder zu thun pflegen. Sie waren so an gegenseitige Neckereien gewöhnt, daß es ihnen durchaus nicht darauf ankam, auch einmal einen Dritten in den Kreis dieser Neckereien zu ziehen. Sie dachten gar nicht daran, wie wenig der schroffe Charakter Waldemar’s dazu geeignet war, und in welchen bitteren Ernst er das Spiel verkehren könnte, das sie sich in ihrem Muthwillen ausgesonnen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_484.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)