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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


uralte Buchen, die ihre riesigen Aeste weithin über den grünen Rasen ausbreiteten und über die grauen verwitterten Steintrümmer, die hier und da zerstreut lagen – der Sage nach die Ueberreste einer alten heidnischen Opferstätte. An der Landungsstelle traten die Bäume zu beiden Seiten zurück, und wie in einem Rahmen lag das weite Meer da. Tiefblau dehnte sich die unabsehbare Fläche aus; kein Ufer, keine Insel begrenzte den Blick; kein Segel tauchte am Horizonte auf, nichts als das Meer in seiner ganzen Schönheit, und der Buchenholm lag so einsam und weltverloren da, als sei er wirklich ein kleines Eiland mitten im Ocean.

Wanda hatte ihren Strohhut abgenommen, um den sich nur ein einfaches schwarzes Band schlang, und ließ sich jetzt auf einem der moosbewachsenen Steine nieder. Sie trug noch theilweise die Trauer um den verstorbenen Fürsten Baratowski; das weiße Kleid zeigte als einzigen Schmuck einige schwarze Schleifen, und die schweren Enden der gleichfalls schwarzen Schärpe fielen an der Seite nieder. Diese Todtenfarbe auf dem weißen Gewande gab der Erscheinung des jungen Mädchens etwas Ernstes, Schwermüthiges, das ihr sonst gar nicht eigen war; sie sah unendlich reizend aus, als sie so, mit leicht verschlungenen Händen, dasaß und nachdenkend auf das Meer hinausblickte.

Waldemar, der an ihrer Seite auf den riesigen Wurzeln einer Buche Platz genommen hatte, schien das auch zu finden, denn er unterhielt sich ausschließlich damit, sie anzusehen. Die ganze übrige Umgebung existirte für ihn nicht, und er schreckte wie aus einem Traume empor, als Wanda auf ihren Steinsitz deutete und dabei scherzend fragte:

„Ist das vielleicht einer von Ihren alten Runensteinen?“

Waldemar zuckte die Achseln. „Da müssen Sie meinen Lehrer, den Doctor Fabian, fragen,“ entgegnete er. „Der ist in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung besser zu Hause als in dem jetzigen. Er würde Ihnen einen sehr gelehrten und ausführlichen Vortrag über Runensteine, Hünengräber und dergleichen halten; es wäre sein höchster Genuß, das zu thun.“

„Um Gotteswillen nicht!“ lachte Wanda. „Aber wenn Doctor Fabian solche Begeisterung für die Vorzeit hegt, dann wundert es mich, daß er nicht auch Ihnen den Geschmack daran beigebracht hat. Mir scheint, Sie sind sehr gleichgültig dagegen.“

Der junge Mann machte eine verächtliche Miene. „Was kümmern mich diese Alterthumsgeschichten! Mich interessiren Wald und Felder nur wegen der Jagd, die sie mir bieten.“

„Wie prosaisch!“ rief Wanda entrüstet. „Also nur Ihre Jagdgeschichten haben Sie im Kopfe? Und hier auf dem Buchenholm denken Sie wohl auch nur an die Rehe und Hasen, die er möglicher Weise bergen könnte?“

„Nein,“ sagte Waldemar langsam, „hier nicht.“

„Es wäre auch unverzeihlich in dieser Umgebung. Sehen Sie nur diese Abendbeleuchtung! Dort drüben scheint die Fluth förmlich zu strahlen.“

Waldemar folgte gleichgültig der Richtung ihrer Hand. „Ja wohl – dort soll ja auch Vineta versunken sein.“

„Was ist dort versunken?“ fragte die junge Dame, sich lebhaft umwendend.

„Haben Sie noch nicht davon gehört? Es ist eine unserer Meeressagen; ich glaubte, Sie kennten sie bereits.“

„Nein. Erzählen Sie!“

„Ich bin ein schlechter Märchenerzähler,“ sagte Waldemar abwehrend. „Fragen Sie unser Strandvolk danach! Jeder alte Schiffer weiß Ihnen das besser und ausführlicher zu berichten als ich.“

„Ich will es aber aus Ihrem Munde hören,“ beharrte Wanda. „Also erzählen Sie!“

Auf der Stirn Waldemar’s zeigte sich eine Falte – der Befehl klang auch gar zu gebieterisch.

„Sie wollen?“ wiederholte er mit einiger Schärfe.

Wanda sah recht gut, daß er verletzt war, aber sie pochte auf eine Macht, die sie während der letzten Wochen oft genug erprobt hatte. „Ja wohl, ich will,“ erklärte sie mit der gleichen Bestimmtheit wie vorher.

Die Falte auf der Stirn des jungen Mannes vertiefte sich. Es war wieder einer jener Momente, wo er sich trotzig gegen den Zauber aufbäumte, der ihn in Fesseln gelegt hatte, aber jetzt begegnete er den dunkeln Augen, die den Befehl in eine Bitte umzuwandeln schienen, und vorbei war es mit Trotz und Widerstand – seine Stirn glättete sich; er lächelte.

„Nun denn also, wie ich es geben kann, kurz und – prosaisch,“ sagte er, das letzte Wort betonend. „Vineta soll, der Sage nach, eine alte Meeresfeste gewesen sein, die Hauptstadt der damaligen Bevölkerung, die das Meer und die Küsten ringsum beherrschte und an Glanz und Pracht ihres Gleichen suchte, während ihr aus allen Ländern unermeßliche Schätze zuströmten. Aber Hochmuth und Sünden ihrer Bewohner riefen das Strafgericht des Himmels auf sie herab, und sie ward von den Fluthen verschlungen. Unsere Schiffer schwören noch heute darauf, daß dort drüben, wo das Ufer so weit zurücktritt, die Feste Vineta unversehrt auf dem Meeresgrunde ruht. Sie wollen unter dem Wasser oft die Thürme und Kuppeln erblicken, die Glocken läuten hören, und bisweilen, in gewissen Zauberstunden, soll die ganze Wunderstadt wieder heraufsteigen aus der Tiefe und sich den besonders Begnadeten zeigen – es giebt ja Luftspiegelungen genug auf dem Meere, und wir haben hier im Norden auch eine Art von Fata Morgana, wenn auch freilich äußerst selten –“

„So erlassen Sie mir doch die nüchterne Erklärung!“ unterbrach ihn Wanda ungeduldig. „Wer fragt darnach, wenn die Sage nur schön ist, und wunderschön ist sie. Finden Sie das nicht auch?“

„Ich weiß nicht,“ versetzte Waldemar in einiger Verlegenheit. „Ich habe eigentlich noch nie darüber nachgedacht.“

„Aber haben Sie denn ganz und gar keine Empfindung für Poesie?“ rief die junge Gräfin verzweiflungsvoll. „Das ist ja entsetzlich.“

Er schaute sie betreten an. „Finden Sie das wirklich so entsetzlich?“

„Gewiß!“

„Mich hat aber nie Jemand gelehrt, die Poesie zu verstehen,“ sagte der junge Mann wie im Tone der Entschuldigung. „Im Hause meines Onkels weiß man nichts davon, und meine Lehrer haben mir nur immer trockene Unterrichtsstunden gegeben – ich fange erst jetzt an zu begreifen, daß es überhaupt eine Poesie giebt.“

Die letzten Worte hatten einen beinahe träumerischen Ausdruck, den Waldemar sonst niemals zeigte. Er warf das Haar zurück, das ihm wie gewöhnlich tief in die Stirn herabfiel, und lehnte den Kopf an den Stamm der Buche. Wanda machte zum ersten Mal die Entdeckung, daß es eine merkwürdig hohe und schön gewölbte Stirn war, die sich da unter dem blonden Haargewirr barg. Jetzt, wo sie sich frei und unbedeckt zeigte, schien sie das unschöne und unregelmäßige Gesicht förmlich zu adeln. An den linken Schläfen lief eine eigenthümlich gezeichnete blaue Ader hin, die selbst im Moment der Ruhe scharf und deutlich hervortrat; die junge Gräfin hatte sie noch niemals bemerkt unter der „ungeheuren gelben Löwenmähne“, die ihr stets ein Gegenstand des Spottes war.

„Wissen Sie, Waldemar, daß ich soeben etwas entdeckt habe?“ fragte sie neckend.

„Nun?“ fragte er zurück, ohne seine Stellung zu verändern.

„Die seltsame blaue Ader da an Ihrer Stirn – die Tante trägt sie gleichfalls an den Schläfen, genau an derselben Stelle und genau ebenso gezeichnet, nur schwächer.“

„Wirklich? Nun, das ist auch wohl das Einzige, was ich von meiner Mutter habe.“

„Ja, es ist wahr, Sie ähneln ihr nicht im Mindesten,“ meinte Wanda unbefangen. „Und Leo gleicht ihr doch zum Sprechen.“

„Leo!“ wiederholte Waldemar mit eigenthümlicher Betonung. „Ja freilich, Leo! Das ist auch etwas Anderes.“

Wanda lachte. „Weshalb? Soll der jüngere Bruder darin etwas vor dem älteren voraus haben?“

„Warum nicht? Hat er doch die Liebe der Mutter vor ihm voraus – ich dächte, das wäre genug.“

„Aber Waldemar!“ warf die junge Gräfin ein.

„Ist Ihnen das neu?“ fragte er mit einem finsteren Aufblick. „Ich dächte, es könnte für keinen Dritten ein Geheimniß mehr sein, wie ich mit meiner Mutter stehe. Sie zwingt sich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_514.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)