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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 40.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich  bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.



Nachdruck verboten und Ueber-
setzungsrecht vorbehalten.     
Beim Rheinwein.

Vom Flaschenhaupt den Pfropfen fort
Und vom Humor den Zügel!
Frau Musika, sie geb’ dem Wort
Die leichten, flinken Flügel,
Und auf des Liedes Schwingen steig’
Das Herz zu dieser Stunde
Hoch in der Freude Sonnenreich
In lust’ger Zecherrunde.

Und haben wir kein Flügelpaar,
Das trägt bis zu den Sternen –
Vom Schmetterling, nicht nur vom Aar,
Läßt fliegen auch sich lernen.
Der Falter soll uns Lehrer sein,
Der Sorgen gift’ge Nattern,
Des Lebens Staub und Dorn und Stein
Beim Wein zu überflattern. –

Jung Röslein frisch, jung Röslein roth,
Du schönster Maigedanke,
Du bietest uns das Himmelsbrod
Zum duft’gen Himmelstranke.
Du holdes Kind der Frühlingsflur,
Laß scherzen uns und kosen!
Es brechen nicht, es küssen nur
Die Falter sacht die Rosen.

Vom Thaukelch trinkt der Schmetterling;
Die Römer uns gebühren –
Schon ziert des Bechers blanken Ring
Ein Kranz von Perlenschnüren.
Wir schlürfen sie, und jeder Druck
Fällt von der Brust uns leise;
Es zieht der Geist in solchem Schmuck
In sel’ge Götterkreise.

Die Götter trinken Brüderschaft
Mit uns, den Erdensöhnen,
Und hellen Klangs, mit voller Kraft
Soll unser Sang ertönen:
Im gold’nen Wein ist Sonnenschein –
Da ist das rechte Leben;
Gesegnet sei der Vater Rhein,
Gesegnet seine Reben!

Emil Rittershaus.




Kein Herz.
1.

Orte haben, gleich den Menschen, ihre Geschicke. Mitunter zieht sich das Leben vor ihnen zurück, dann überschüttet es sie wieder mit unerwarteten Gaben, zuströmendem Neuen. Sie können sogar sterben. Meist ist es aber nur ein Scheintod, und aus Grabesruhe und Verlassenheit quillt urplötzlich frisches, volleres Dasein hervor. Man könnte ihre Biographie schreiben. Das geschieht auch mitunter, wenn sie der gewaltige Gang der Weltgeschichte im Vorüberstreifen berührt, oder gar einen Augenblick in ihrem Umkreise gerastet hat, aber nur selten finden sie ihren Chronisten. Und doch bergen diese „Stillen im Lande“ mehr eigenthümliches Leben, als manche Orte, deren Namen die Fama mit schallender Trompete in die Welt hinausposaunt.

Eine solche durch Natur und Geschick begrenzte Stätte ist der Schauplatz unserer Erzählung. Inmitten eines der schönsten bairischen Seen liegt eine Insel von so mäßigem Flächenraum, daß sich ihr ganzer Bering im Laufe einer halben Stunde umschreiten läßt. Seit dort vor grauen Zeiten ein Nonnenkloster erbaut worden, dessen erste Aebtissin eine Königstochter war, hat die Fraueninsel manche Wandlung erfahren: Jahrhundertelang war sie der Mittelpunkt geistlichen Besitzthums, das sich unter der Herrschaft kluger Frauen vielfach mehrte, bis die Ungunst der Zeiten das Erworbene wieder losriß, um endlich im Beginn unseres Säculums die Pforten strenger Clausur völlig zu sprengen – dann, unter raschem Zudringen des Weltlichen, fiel die Insel der fröhlichen Zunft der Maler anheim, der sie als Künstlerherberge ungestört verblieb, bis das kleine Eiland mit dem Anlanden des ersten Dampfschiffes in seine letzte Phase trat: ein Ziel für Touristen zu werden.

Seit jenem Tage wird unter den künstlerischen Stammältesten, welche als erste Pioniere moderner Cultur auf Frauenwörth gewirkt, mancher Stoßseufzer vernehmbar. Noch bewahrt der Ort seine reizvolle Eigenart, aber der köstliche Alleinbesitz hat seine Endschaft erreicht, und manches deutliche Zeichen verräth den stillen Protest der Malerzunft. Kein lustiger Mummenschanz, keine funkelnden Tollheiten mehr, wie dereinst, als man „unter sich“ gewesen. Während der erste Band der originellen, von den Stiftern gegründeten Chronik in Lied, Bild und Humor der Ausdruck echten Kunstsinnes ist, füllt sich manches Blatt des zweiten mit höchst fragwürdigem Inhalt, und die Wehklage der Gründer ist dazwischen zu lesen. Allerlei fahrendes Volk landet, streift umher und läßt sich sogar mitunter häuslich dort nieder. – So ist der Lauf der Welt.

Es war an einem Septembermorgen des Jahres 1866, in den ersten Tagen des Monats und zu ziemlich früher Stunde, als eine Dame auf den Balcon hinaustrat, welcher die Fronte des neben dem alten Wirthschaftsgebäude stehenden Gasthauses schmückt. Ein junges, schlicht gekleidetes Mädchen folgte ihr eilig mit Sessel, und Fußbänkchen und kehrte dann in das Zimmer zurück, zu dem sie auf einen Wink der Dame die Flügelthür geöffnet ließ. Die schlanke Gestalt, welche sich, ohne den Sitz zu benutzen, über die Brüstung des Balcons lehnte, war nicht mehr in der ersten Jugend, doch entschädigte Grazie der Erscheinung für die mangelnde Frische. In der Weise, wie sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 659. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_659.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)