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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

No. 41.   1876.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.   Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig – In Heften à 50 Pfennig.


Kein Herz.
(Fortsetzung.)


Ein Regentag, nun gar ein Regensonntag auf dem Lande, hat eine ganz andere Physiognomie, als ein gleicher in der Stadt. Schon Morgens, beim Oeffnen der Läden, erscheinen im Rahmen der Fenster Portraits, die sich von den bei Sonnenschein zu erschauenden bedeutend unterscheiden. Mißfälligen Blickes wird das Grau in Grau schattirte Landschaftsbild gemustert. Alle Sonntagspläne sind umgestoßen; keine Programmänderung ist erreichbar. Ergebung in das Unabänderliche wird zum Begriffe höchster Tugend. Jede Spur der Berge ist verschwunden, als wären sie aus der Welt fortescamotirt; der aschfarbige Himmel hat sich mit dem bleifarbenen See in nasse Verbindung gesetzt – nirgend ein noch so kleines Fleckchen, dessen hellere Färbung hoffnungsvolle Gemüther nahendes Himmelblau wittern lassen könnte. Wäre es noch ein interessantes schlechtes Wetter mit Gewittersturm und brandender Welle, wo jagende, farbenwechselnde Wolken Wald und Gebirge an den Horizont malen, dann fänden wenigstens Künstler und Poeten ihre Rechnung. Aber nein! mit nie endendem Geplätscher zieht sich der Regen in dicken, schrägen Strichen nieder, wie auf einer Illustration; im Rinngusse brodelt, auf den Dächern rasselt es ohne Aufhören.

Das Geläute der Glocken hallt melancholisch vom grauen Thurme; unter aufgespannten Regenschirmen ziehen ländliche und städtische Gestalten in die alte Kirche; die Frommen, um zu beten, die Unfrommen, um dem süßen Gesange der Klosterfrauen zu lauschen, welcher vom hohen Chore niedertönt, hold und unsichtbar, als sängen die leibhaftigen lieben Engelein. Nach dieser Stunde begiebt sich nichts mehr. Am Sonntage hat der Landpostbote Feiertag: weder Brief noch Zeitung ist zu erhoffen. Zwar erscheint das Dampfschiff pünktlich zu den gewöhnlichen Stunden, aber Niemand schaut nach ihm aus, weder Wirthin noch Gäste. Man weiß, es bringt nichts, trotz seines schrill locomotivenhaften Pfeifens. Es zeigt eine unheimliche Verwandtschaft mit dem fliegenden Holländer: Niemand ist darauf zu schauen, als Capitain und Steuermann.

Die Gäste bleiben in ihren Zimmern. Briefe von sehr altem Datum, welche mit frischen Vorsätzen zur That aus der Stadt mitgenommen worden und langen Frieden genossen haben, werden beantwortet. Die vereinzelten glücklichen Besitzer irgend eines Buches fallen darüber her und lesen das bereits früher Genossene so scharf durch, als sei es ihnen eben vom Himmel gefallen. Von Zeit zu Zeit tritt ein arbeitslustiger Claude Lorrain aus dem Hause auf die Terrasse, späht in das Aschgrau und kehrt achselzuckend in seine Klause zurück. Die Mittagsstunde ist gekommen, zu Lob und Preis. Heute giebt es Gebratenes und Gebackenes, nicht blos weil Sonntag ist, sondern auch weil Enten und Hühner, theilweise auf Dampfschiffgäste berechnet, nun den Einheimischen zu Gute kommen. Nach Tische geht Jedermann zur Siesta; den Kindern wird eingeschärft, sie müßten heute einen Nachmittagsschlaf von dreistündiger Dauer leisten, und die Gäste thun desgleichen. Hiermit ist der Regentag besiegt, denn mit Herannahen des Abends heben sich die Lebensgeister. Sobald die Lampen des Eßzimmers entzündet werden, weiß Jeder, was er soll und was er muß. Der ländlich ausgestattete Raum füllt sich nicht nur früher, sondern auch mehr als gewöhnlich. Obgleich es noch immer niederrieselt, finden sich, mit Schirmen und Laternen bewaffnet, sämmtliche Insassen der Privatwohnungen ein, um nach dem langweiligen Tage auch ihr Theil abendlicher Geselligkeit zu genießen. Lust und Leben schäumen auf wie Perlen in lange verkorktem Wein. Während die „Herrschen“ im Speisezimmer lachen und plaudern, sitzen Ackerbürger und Handwerker im Gange bei ihrem Maße Bier, und zwischen ihnen concertirt das aus Violine, Cither und Guitarre bestehende Orchester der Tafel.

Die Gesellschaftsspiele der Jugend waren bei diesen verlockenden Tönen heute in ein Tänzchen übergegangen, und die nun einmal in Zug gerathenen jüngen Künstler und Professoren gaben diese Lust keineswegs auf, nachdem sich ihre Damen zur Ruhe zurückgezogen hatten, sondern wählten sich neue Partnerinnen, unter welchen Monika offenbar die Gesuchteste war. Ohne Zweifel mußte es ein Vergnügen sein, mit ihr zu tanzen; sie nur tanzen zu sehen, war eine Augenweide. Das mochte wohl auch „Herr Wilhelm“ finden, denn obgleich sein Gesicht den gleichgültigsten Ausdruck zeigte, folgten seine Augen doch beständig dem gleichen Ziele, während er in kerzengerader Haltung unter der Zimmerthür stand.

Monika kam mit ihrem Tänzer neben ihm zu stehen; trotz des unermüdlichen Walzens war sie nicht athemlos; die Bewegung schien ihr so natürlich, wie dem Vogel der Flug. Sie schien ihren Nachbar nicht bemerkt zu haben; plötzlich drehte sie den Kopf nach ihm und sagte in ihrer frischem Weise:

„Warum tanzen Sie denn gar nicht, Herr Wilhelm?“

Er machte eine etwas linkische Bewegung. „Ich kann nicht tanzen, Fräulein Monika.“

„Hier bei uns giebt es keine Fräuleins,“ lachte das Mädchen. „Ich bin Monika ohne Zubehör – das müssen Sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 679. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_679.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)