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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


Da lag sein Glück, sein Stolz, sein einziges Kind. Die Brust war zerschmettert, die weichen Glieder zermalmt, das süße Gesichtchen aber unverletzt. Noch zögerte darauf ein lächelnder Ausdruck; die göttliche Zuversicht der Kinderseele war von Gefahr und Angst unberührt geblieben. Wilhelm streckte beide Arme aus, als wollte er an sich raffen, was er nicht hatte behüten können, doch erstarrten ihm die Glieder in der Bewegung; ein rauher, gebrochener Ton rang sich aus seiner Kehle, dann stürzte der starke Mann neben dem Kinde nieder. Die Sinne vergingen ihm.

So fand man die Beiden, als Arbeiter aus der Nähe hinzuliefen. Doch währte die Bewußtlosigkeit des Unglücklichen nicht lange. Starr und eisig, als gehörte er nicht mehr den Lebenden an, gab er auf Aeußerung der Theilnahme und der Bewunderung seiner Pflichttreue weder Wort noch Zeichen. Der einzige Laut, der über seine Lippen kam, war die Forderung eines Tuches. Dahinein hüllte er, was ihm übrig geblieben, und trug sein entseeltes Kind auf seinen Armen nach Hause. Er bettete es dort auf dem Kissen, das, bei der Eile, womit heute die Hausfrau ihre Morgengeschäfte beschickt hatte, noch den Eindruck des Köpfchens trug, welches so lebensfrisch erwacht war. Er umhüllte die zerschmetterten Glieder sorgfältig mit den Decken, und saß dann neben dem kleinen Bette. Er wartete auf die Heimkunft seiner Frau. –

Monika hatte ihre Andacht vollendet, war auf dem Rückwege bei den Müller’s eingetreten und verließ die Hütte, worin sie ungetrösteter Jammer empfangen hatte, mit unbehaglichem Gefühl, dem sich eine leise persönliche Bitterkeit beimischte. So in Gedanken ging sie vor sich hin, ohne nach rechts oder links zu schauen. Bei einem flüchtigen Blick auf ein paar Leute der Ortschaft, die ihr, vom Felde kommend, begegneten, fiel ihr aber die sonderbare Art auf, womit sie angeschaut und begrüßt wurde. Während sie mit der ihr angeborenen Freundlichkeit ihr heimathliches: „Grüß Gott!“ sprach, unterschied ihr Ohr im Vorübergehen ein Gemurmel, das ihr befremdend vorkam. Wie es mitunter geschieht, daß man, von eigenen Gedanken zerstreut, ein Wort auffängt, welches im ersten Moment nicht viel anders hingenommen wird, als ein Schall, und sich erst nachher auf dessen Inhalt besinnt, war sie schon einige Schritte vorwärts gelangt, bis ihr deutlich zum Bewußtsein kam, daß gesagt worden: „Sie weiß noch nichts.“ Plötzlich wandte sie sich um und sah die Leute auf demselben Flecke, wo sie ihnen begegnet war, stille stehen und ihr in einer Weise nachstarren, die ihr das Blut in den Adern stocken machte. Mit einem Sprunge stand sie dicht vor ihnen und athmete hastig: „Was weiß ich nicht? – was ist passirt?!“

Die ihr kaum bekannte Bauernfrau, deren Arm sie bei dieser Frage erfaßt hatte, wandte sich ab und fing an zu schluchzen. Der Mann schüttelte ernsthaft den Kopf und sagte, indem er nach der Bahn zu deutete: „Geht heim, Huberin! Ihr werdet’s zeitig genug erfahren. Es hat ein Unglück gegeben – nehmt’s christlich und tröstet Euch damit, daß Ihr einen Mann habt, der braver ist, als irgend Wer auf der Welt!“

Monika that keine Frage mehr. Ihre Augen spannten sich und wurden weit. Sie stand einen Augenblick wie eine Säule. Dann flog sie wie ein gehetztes Wild den Weg entlang, ihrem Hause zu. Als sie die Thür aufklinkte und das sonndurchhellte Wohngemach in gewohnter Ordnung und leer sah, fuhr ihr helles Roth wie ein Schimmer über das Gesicht. Im nächsten Augenblick sah sie durch die offen stehende Thür Wilhelm neben Fritzel’s Bette sitzen. Zugleich sah sie das weiße, stille Gesichtchen.

Mit einem Schrei, als wollte sich die eigene Seele gewaltsam dem Körper entreißen, war die Mutter neben ihrem Kinde. Sie tastete die weiche, kalte Wange an, schlug dann die Decke mit jäher Bewegung zurück und hatte mit einem einzigen Blicke Alles begriffen. Dann wandte sie den Kopf und sah ihren Mann an – nur eine Secunde lang, aber ihr Auge drang erstarrend in sein Herz. Ohne ein Wort zu sprechen, stand er auf und trat zurück, als wollte er der Mutter Raum geben. Sein heißes, trockenes Auge, das zuvor unverwandt auf dem Kinde gehaftet hatte, hing jetzt gleich unablässig an Monika. Mit einer halb mechanischen Bewegung streckte er den Arm aus, aber es schien nicht mit der Absicht zu geschehen, seine Frau an sich zu ziehen, sondern mit der, sie zu stützen, wenn es nöthig sei. – Es war nicht nöthig. Monika brach nicht zusammen angesichts des namenlosen Schicksals, das sie betroffen; das Bewußtsein verließ sie nicht einen Augenblick. Sie hing über dem Bettchen, streichelte an ihrem todten Liebling herum und murmelte unverständliche Worte.

Wilhelm trug es nicht mehr. Die glühenden Thränen, welche sich ihm bis zu diesem Augenblicke versagt, stürzten ihm aus der Seele in die Augen; er breitete seine beiden Arme aus und rief mit einem Tone, wie ein Ertrinkender um Hülfe ruft: „Monika!“

Sie richtete sich auf und wandte den Kopf nach ihm. Als seine Arme sie berührten, fuhr sie zurück: „Rühr’ mich nicht an!“

(Fortsetzung folgt.)




Die Seebacher Bauern.
Von Max Wirth.


Der Besuch des Kaisers Wilhelm in der Landgemeinde Ober-Seebach im Unter-Elsaß und der sympathische Empfang, welcher ihm da bereitet wurde, hat eine gewisse historische Bedeutung, weil dies die erste elsässische Gemeinde ist, welche auch mit ihrer Gesinnung zu Kaiser und Reich zurückkehrt. Dieser Umstand mag es rechtfertigen, wenn ich eines persönlichen Zusammentreffens mit Seebacher Bauern bei Gelegenheit eines Volksfestes im Jahre 1848 gedenke, welches gewissermaßen wie ein Juwel in meiner Erinnerung aufbewahrt war und namentlich seit der Wiedergewinnung der Reichslande nicht selten darin auftauchte. Die Scene spielte in Weißenburg, und um sogleich zu erklären, welches Band mich nach dieser Stadt zog, will ich bemerken, daß ich drei meiner lateinischen Schuljahre dort zugebracht, und zwar zufällig in einer Classe mit dem Dichter Oskar Redwitz, dessen Vater als Zolldirector an der benachbarten bairischen Grenze wohnte. Während nämlich damals mein Vater seine Bestrebungen für die politische Nationalreform Deutschlands, welche jetzt zum glorreichen Ende geführt ist, mit vierjähriger Gefängnißhaft, worunter zwei Jahre mit Sträflingsarbeit, büßen mußte, sah sich meine Mutter auf seinen Wunsch veranlaßt, sich mit mir und meinen beiden Geschwistern einer zeitweisen freiwilligen Verbannung zu unterziehen, weil meinem Vater die vertrauliche Mittheilung geworden war, daß meine Mutter verhaftet und nebst ihren Kindern in einer Stadt Altbaierns polizeilich internirt werden würde, wie sie denn auch richtig unter den Proscribirten des schwarzen Buches der Mainzer Bundestags-Commission aufgeführt ist. Der eigenthümliche Zusammenhang, welcher zwischen den Vorfällen jener Zeit und den gegenwärtigen Errungenschaften und Bestrebungen besteht, mag es rechtfertigen, wenn ich die Ursache dieser ungewöhnlichen Verfolgung erwähne.

Mein Vater war nach dem Hambacher Fest verhaftet worden und hatte im Gefängniß zu Zweibrücken eine Denkschrift verfaßt, in der er seine bis dahin nur zerstreut und abgerissen in der „Deutschen Tribüne“ erschienenen Gedanken über die politische und sociale Reform Deutschlands im Zusammenhang darstellte und in der Forderung gipfelte, daß Kaiser und Reich auf der Basis verfassungsmäßiger Zustände wieder aufgerichtet werden müssen. Mir wurde damals (1833) als zehnjährigem Knaben die Ehre zu Theil, das Manuscript auf meinem Leibe aus dem Gefängniß zu schmuggeln und zum Druck zu befördern, in dem es unter dem Titel „Die politische Reform Deutschlands“ erschien und dann mit als Hauptanklagepunkt gegen meinen Vater vor den Assisen zu Landau diente. Meine Mutter hatte eigenhändig die Versendung dieser Druckschrift besorgt, wobei sie gegenüber einer polizeilichen Haussuchung den Rest des Vorrathes mit großer Geistesgegenwart durch Zudecken mit einem Haufen kleingespaltenen Holzes rettete, an welcher Arbeit wir Kinder einen eifrigen Antheil nahmen. Wegen Verbreitung dieser Schrift, welche nichts verlangte, als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 704. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_704.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)