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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


„Seit – gestern Abend.“

„Und in der Nacht hat der Ueberfall stattgefunden. Deine Schaar ist aufgelöst, vernichtet.“

Ein Aufschrei brach von den Lippen des jungen Fürsten. Er stürzte auf den Sprechenden zu. „Das ist nicht möglich; das kann nicht sein. Du lügst; Du willst mich nur schrecken mit der Nachricht, willst mich damit zur Entfernung zwingen.“

„Nein, es kann nicht sein,“ fiel jetzt auch die Fürstin mit bebenden Lippen ein. „Du kannst noch keine Nachrichten haben. Waldemar, von dem, was sich drüben während der Nacht ereignete; ich hätte sie früher als Du haben müssen. Du täuschest uns – greife nicht zu solchen Mitteln.“

Waldemar sah einige Secunden lang schweigend die Mutter an, die ihn eher der Lüge beschuldigte, ehe sie an ein Vergehen seines Bruders glaubte; vielleicht war es dies, was seine Stimme so eisig und mitleidslos machte, als er jetzt sagte:

„Dem Fürsten Baratowski war ein wichtiger Posten übergeben worden, mit dem strengsten Befehle, nicht davon zu weichen. Er deckte mit seiner Schaar seinem Oheim den Rücken. Fürst Baratowski fehlte auf diesem Posten, als der nächtliche Angriff erfolgte; der Führer fehlte, und die Uebrigen zeigten sich dem Ueberfalle nicht gewachsen. Sie setzten sich völlig planlos zur Wehre – es gab ein Blutbad. Einige zwanzig Mann retteten sich durch den Uebertritt auf unser Gebiet und fielen unsern Patrouillen in die Hände; drei der Flüchtlinge liegen schwer verwundet drüben im Gutshofe. Aus ihrem Munde erfuhr ich das Geschehene – der Rest ist zersprengt oder vernichtet.“

„Und mein Bruder?“ fragte die Fürstin anscheinend ruhig, aber es lag etwas Schreckliches in dieser Ruhe. „Und das Morynski’sche Corps? Was ist aus ihnen geworden?“

„Ich weiß es nicht,“ versetzte Waldemar. „Es heißt, die Sieger hätten die Richtung nach W. genommen. Was dort geschehen ist, darüber fehlen noch die Nachrichten.“

Er schwieg. Es folgte eine Pause furchtbarer Stille. Leo hatte das Gesicht in beide Hände verborgen; aus seiner Brust drang ein dumpfes Stöhnen hervor. Die Fürstin stand aufrecht, das Auge unverwandt auf ihn gerichtet – sie rang nach Athem.

„Laß uns allein, Waldemar!“ sagte sie endlich tonlos, aber mit der alten Festigkeit.

Er zögerte. Die Mutter war ihm stets kalt und oft genug feindselig erschienen. Hier, an dieser Stelle, hatte sie ihm als erbitterte Gegnerin gegenüber gestanden, als der Streit um die Herrschaft in Wilicza endlich zum Ausbruche kam, aber so hatte er sie doch noch nie gesehen wie in diesem Augenblicke, und ihn, den harten rücksichtslose Nordeck, ergriff es wie Angst und Mitleid, als er das Urtheil seines Bruders in jenen Zügen las.

„Mutter!“ sagte er leise.

„Geh’!“ wiederholte sie. „Ich habe mit dem Fürsten Baratowski zu reden. Da taugt kein Dritter zwischen uns. Laß uns allein!“

Waldemar gehorchte und verließ das Zimmer, aber es bäumte sich wieder heiß und schmerzlich in ihm auf, als er ging. Er wurde verbannt, wo die Mutter mit ihrem Sohne zu reden hatte. Wenn sie diesen auch jetzt ihren Zorn fühlen ließ, wie sie ihm so oft ihre Zärtlichkeit hatte zu erkennen gegeben, der Aeltere war und blieb ein Fremder dabei; ihn hieß man gehen – er „taugte“ nicht zwischen Mutter und Bruder, mochten sie sich nun in Liebe oder Haß begegnen. Ein tiefe Bitterkeit regte sich in Nordeck, und doch fühlte er, daß diese Stunde ihn an der Mutter gerächt hatte für die versagte Zärtlichkeit, daß sie jetzt in ihrem Lieblingssohne, in ihrem Abgotte auf’s Schwerste gestraft war.

Waldemar schloß die Portière hinter sich. Er blieb im Nebenzimmer, um auf alle Fälle den Eingang zu hüten, denn er kannte die Gefahr, der sich Leo aussetzte. Fürst Baratowski hatte zu offen und entscheidend an dem Aufstande Theil genommen, um nicht auch hier geächtet zu sein; auch hier drohte ihm Verurtheilung und Verhaftung. Er war, unvorsichtig genug, am hellen Morgen in das Schloß gekommen; noch befand sich die Escorte, welche die Verwundeten gebracht, im Dorfe, und jeden Augenblick konnten die Bedeckungsmannschaften mit den übrigen Flüchtlingen Wilicza passiren – es galt Vorsichtsmaßregeln zu treffen.

Waldemar stand am Fenster, so weit als möglich von der Thür entfernt. Er wollte nichts hören von der Unterredung, von der man ihn ausgeschlossen, und es war auch nicht möglich – die dicken Sammetfalten der Portière fingen jeden Laut auf. Aber die Zeit drängte. Mehr als eine halbe Stunde war verstrichen und die Unterredung da drinnen währte noch immer fort. Weder die Fürstin noch Leo schienen daran zu denken, daß mit jeder Minute die Gefahr des Letzteren wuchs. Waldemar entschloß sich endlich, sie zu unterbrechen. Er trat wieder in den Salon, blieb aber befremdet stehen, denn statt der erwarteten erregten Scene fand er das tiefste Schweigen.

Die Fürstin war verschwunden und die vorhin offen stehende Thür zu ihrem Arbeitscabinet fest geschlossen. Leo befand sich allein im Zimmer. Er lag in einem Sessel, den Kopf tief eingewühlt in die Kissen, ohne sich zu regen, ohne den Eintretenden zu bemerken, wie gebrochen und vernichtet. Waldemar trat zu ihm und nannte seinen Namen.

„Ermanne Dich!“ mahnte er leise und eindringlich. „Sorge für Deine Sicherheit! Wir haben jetzt hundertfache Beziehungen zu L.; ich kann das Schloß nicht vor Besuchen schützen, die Dir gefährlich sind. Ziehe Dich für’s Erste in Deine eigenen Zimmer zurück! Sie können ja nach wie vor als verschlossen gelten, und Pawlick ist zuverlässig. Komm!“

Langsam hob Leo das Gesicht empor; es war erdfahl – jeder Blutstropfen schien daraus gewichen zu sein. Er blickte den Bruder groß und starr an, ohne ihn zu verstehen. Sein Ohr fing nur mechanisch das letzte Wort auf.

„Wohin?“ fragte er.

„Vor allen Dingen nur fort aus diesen Hauptgemächern, die so Vielen zugänglich sind! Komm – ich bitte Dich.“

Leo erhob sich ebenso mechanisch, wie er vorhin zugehört. Er sah sich im Zimmer um, so fremd, als kenne er nicht die vertrauten Räume und müsse sich erst besinnen, wo er sei, nur als sein Auge auf die geschlossene Thür zum Gemach seiner Mutter fiel, zuckte er zusammen.

„Wo ist Wanda?“ fragte er endlich.

„In ihrem Zimmer. Willst Du sie sehen?“

Der junge Fürst machte eine abwehrende Bewegung: „Nein! Sie würde mich auch mit Abscheu, mit Verachtung zurückstoßen – ich habe genug an dem einen Male.“

Er stützte sich schwer auf den Sessel; die sonst so helle, jugendfrische Stimme klang matt und gebrochen. Man sah es, die Scene mit der Mutter war ihm an’s Leben gegangen.

„Leo,“ sagte Waldemar ernst, „hättest Du mich nicht so furchtbar gereizt, ich hätte Dir die Nachricht nicht so schonungslos mitgetheilt. Aber Du brachtest mich auf’s Aeußerste mit jenem verhängnißvollen Worte.“

„Sei ruhig! Die Mutter hat es mir zurückgegeben. Ich bin ihr jetzt der Verräther, der Ehrlose. Ich habe das anhören müssen und – schweigen.“

Es lag etwas Unheimliches in dieser starren, dumpfen Ruhe des sonst so leidenschaftlich aufbrausenden Jünglings; die eine halbe Stunde schien seine ganze Natur verändert zu haben.

„Folge mir!“ drängte Waldemar. „Du mußt doch für’s Erste noch im Schlosse bleiben.“

„Nein, ich will nach W. hinüber, sofort. Ich muß wissen, was aus meinem Oheim und den Seinigen geworden ist.“

„Um Gotteswillen!“ rief der Bruder entsetzt. „Du willst doch nicht den Wahnsinn begehen, jetzt am hellen Tage die Grenze zu passiren? Das wäre ja offenbarer Selbstmord.“

„Ich muß,“ beharrte Leo. „Ich kenne den Ort, wo der Uebergang noch möglich ist. Habe ich heute Morgen den Weg gefunden, so werde ich ihn auch zum zweiten Male finden.“

„Und ich sage Dir: Du kommst jetzt nicht hinüber. Seit heute Morgen ist die Bewachung verstärkt auch auf unserer Seite, und drüben steht eine dreifache Postenkette. Sie haben Befehl, Jeden niederzuschießen, der die Losung nicht kennt. Und Du kommst in jedem Falle zu spät. In W. ist die Entscheidung längst gefallen.“

„Gleichviel!“ brach Leo aus, plötzlich aus seiner Erstarrung in die wildeste Verzweiflung übergehend. „Irgend einen Kampf wird es da drüben doch noch geben, nur einen einzigen, und mehr brauche ich nicht. Wenn Du wüßtest, was die Mutter mir angethan hat mit ihren furchtbaren Worten! Sie weiß es ja, daß, wenn ich den Untergang der Meinigen verschuldete, ich

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